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Kamerafrau Anne (Lieve Fikkers, l.) beim Backstage-Smalltalk mit dem Darsteller-Quartett Lukas von der Lühe, Marius Huth, Mercy Dorcas Otieno und Risto Kübar (v.l.).

Pirandelleskes Erinnerungsstück

Der Bus nach Dachau

Bochum, 2022. Ein Dutzend Theaterbesucher, die sich bereiterklärt haben, im Prolog als Statisten aufzutreten, sitzen rechts vorn auf der Bühne der Kammerspiele. Ko-Regisseur Ward Weemhoff führt, mit lückenhaften Deutschkenntnissen kokettierend, in das neunzigminütige „Erinnerungsstück“ ein, dessen Geschichte 1940 bis 1945 unter niederländischen Häftlingen im Konzentrationslager Dachau spielt, eigentlich aber 1995 in Amsterdam beginnt: Der Dutch Film Fund lehnt ein Drehbuch von Wards Vater, dem 1948 in Emmen geborenen Schauspieler, Theaterleiter und Schriftsteller Rudger Weemhoff, ab. „Der Bus von Dachau“ beschreibt die Reise gerade befreiter KZ-Häftlinge 1945 von Dachau nach Amsterdam, ihre Probleme mit den Behörden in der Heimat, aber auch ihre Schuldgefühle als Überlebende.

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Die Bühne verwandelt sich in ein Filmset, der Nachbau einer Dachauer Baracke befindet sich für die Theaterbesucher unsichtbar in einem hölzernen Kubus linkerhand. Der Regisseur Rudger Weemhoff (Vincent Rietveld), der zwischendurch mit seinem Mitte der 1990er Jahre noch 12-jährigen Sohn Ward telefoniert (auf Holländisch mit deutschen Übertiteln!), geht mit der Kamerafrau Anne (Lieve Fikkers) und dem vierköpfigen Ensemble Szenen durch, die in der zweiten Hälfte der 1940er Jahre im Konzentrationslager spielen. In gestreifter KZ-Kleidung und immer wieder, ein Brechtscher Verfremdungs-Effekt, der hier wohl für das Problem der Visualisierung des Unsagbaren steht, mit Gesichtsmasken verkörpert das Quartett den Häftling Teddy, seinen Freund Beck, den Kapo Both und einen „Ungar“ genannten Häftling, der um einen Nachschlag bei der Suppe bittet – mit fürchterlichen Folgen nicht nur für ihn selbst.

Ward Weemhoff erzählt im Prolog einem Dutzend Besucher die Geschichte des Drehbuches „Der Bus aus Dachau“ seines Vaters Rutger Weenhoff, dem Ausgangspunkt der szenischen Erinnerung „Der Bus nach Dachau“.

Die Schauspieler backstage beim Smalltalk. Es geht um die filmästhetische Verarbeitung des Holocausts, um Steven Spielbergs Melodram „Schindlers Liste“ aus dem Jahr 1993 im Vergleich etwa zu Claude Lanzmanns Zeitzeugen-Doku „Shoa“ von 1985. Der Regisseur reflektiert die bisherigen Dreharbeiten, gibt dramaturgische Hinweise. Er probiert einzelne Szenen, verwirft sie wieder, zweifelt am Vorhaben insgesamt. Bis der Schauspieler Freddy (ein unter die Haut gehendes Solo: Risto Kübar) den heute von Alpträumen geplagten KZ-Überlebenden Teddy vor Annes Kamera im wahren Wortsinn verkörpert: Selbst unter großen Schmerzen war ein Gang auf den KZ-Abort nicht nur die einzige Möglichkeit einer individuellen menschlichen Handlung, sondern Ausdruck des letzten Restes Zivilisation im Lager überhaupt.

Die höchst pirandelleske Film-im-Theater-auf-dem-Theater-Situation der andauernden Verknüpfung dreier Zeitebenen erreicht ihren Höhepunkt, als Vater und Sohn, Ward Weemhoff spielt sich selbst, über die Mittel sinnieren, mit denen die Erinnerung an den Nationalsozialismus im 21. Jahrhundert lebendig gehalten werden soll. Beide stärken sich gegenseitig, indem sie gemeinsam singen und sich dabei wechselweise mit der Handkamera filmen: Franz Schuberts „Am Tage Aller Seelen“, 1816 komponiert auf ein Gedicht von Georg Jacobi. Das ist skurril, letztlich aber vor allem anrührend. Am Ende ist der hölzerne Kubus, ganz in blaues Licht gehüllt, leer: Ein Erinnerungsraum, der immer wieder neu gefüllt werden muss, auch wenn der letzte Zeitzeuge des Holocausts gestorben sein wird.

Vincent Rietveld und Ward Weemhoff haben sich an der Theaterakademie in Maastricht kennengelernt. Im Jahr ihres dortigen Abschlusses, 2002, gründeten sie in Amsterdam das Kollektiv „De Warme Winkel“ („Der heiße Laden“), das bisher rund dreißig Projekte mit unterschiedlichsten theatralischen Mitteln realisiert hat. „Der Bus nach Dachau“, uraufgeführt am 5. November 2022 in den Bochumer Kammerspielen, ist die erste Produktion in deutscher Sprache. Neben vier Ensemblemitgliedern, noch zu nennen Lukas von der Lühe, Marius Huth und Mercy Dorcas Otieno, spielen auch die beiden Regisseure und die 1998 in Rotterdam geborene Schauspielerin und Performerin Lieve Fikkers.

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Bevor „Der Bus nach Dachau“ vom 17. bis 20. Januar 2023 en suite im koproduzierenden Internationaal Theater Amsterdam aufgeführt wird, ist das, so der Untertitel, „21st Century Erinnerungsstück“ noch viermal in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum zu sehen, am 16. Dezember 2022 mit anschließendem Publikumsgespräch.

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  • Freitag, 16. Dezember 2022
| Autor: Pitt Herrmann