
„Die Mittagsfrau“ im Kino
Adaption des Bestsellers von Julia Franck
Julia Franck, Berlinerin des Jahrgangs 1970, hat ihr Stipendium in der römischen Villa Massimo produktiv genutzt: Zwei Jahre später ist ihr 430 Seiten starker Roman „Die Mittagsfrau“ mit dem Deutschen Buchpreis 2007 ausgezeichnet worden. Im Prolog ist der Zweite Weltkrieg seit acht Wochen vorbei. „Wir werden jetzt nicht mehr zu Deutschland gehören“ prophezeit der Lehrer Fuchs, weshalb Hochbetrieb auf dem Stettiner Bahnhof herrscht. Auch die Krankenschwester Alice Sehmisch (eigentlich Helene Würsich: Mala Emde) flieht mit ihrem Sohn Peter (Finjen Kiefer) nach Westen, nachdem sie vor den Augen des Siebenjährigen von Sowjetsoldaten vergewaltigt worden ist. Bei der Zwischenstation Pasewalk verschwindet Alice spurlos…
Barbara Alberts mit 136 Minuten kaum weniger epische Leinwand-Adaption beginnt dagegen mit dem Epilog der Vorlage: „Wo ich herkomme, erzählt man sich die Geschichte der Mittagsfrau“ sagt Helene über den stets zur Mittagszeit auf den Feldern erscheinenden wendischen Naturgeist, „mit der man sprechen muss, sollte man ihr begegnen.“ Helene fährt nach Mecklenburg zum Bauernhof ihres Schwagers, um Peter an seinem 17. Geburtstag zu besuchen. Der freilich von seiner Mutter nichts wissen will – und ihr im Roman auch nicht begegnet. Im Film dagegen, der die ersten beiden Buch-Kapitel „Die Welt steht uns offen“ und „Kein schönerer Augenblick als dieser“ knapp zusammenfasst, gibt’s am versöhnlichen Ende der Rahmengeschichte eine vorsichtige Annäherung im Kornfeld…

Ihre nach dem Verlust ihrer Söhne im 1. Weltkrieg und dem Typhus-Tod ihres Gatten psychisch kranke jüdische Mutter Selma (Eli Wasserscheid) in der Obhut der Haushälterin in Bautzen zurücklassend, folgen die 13-jährige Helene und ihre 22-jährige Schwester Martha (Liliane Amuat) einer Einladung ihrer Charlottenburger Tante Fanny (Fabienne Elaine Hollwege) ins aufregende Berlin der wilden 1920er Jahre. „Engelchen“ Helene kann dort auf eine höhere Schule für Mädchen gehen mit dem Ziel eines Medizinstudiums und jobbt nebenbei in einer Apotheke. Während sich Martha an der Seite ihrer Kindheitsfreundin, der Ärztin Leontine (Laura Louisa Garde), im Party- und Drogenrausch verliert.
Helene lernt den Literatur-Studenten Karl Wertheimer (Thomas Prenn) kennen, der sie in seinen Künstlerzirkel mitnimmt. Als sie ungewollt schwanger wird, kommt die Engelmacherin zum Engelchen. Karl will sie trotz dieses Vertrauensbruchs heiraten – und stirbt am letzten Tag vor Helenes Matura. Im Roman profan durch einen Unfall auf schneeglatter Straße, spektakulärer im Film bei einem politischen „Vorfall“ vor dem Reichstag, eine Anspielung auf das von den Nationalsozialisten selbst in Brand gesteckte Parlament.
Auf dem Höhepunkt der mit Massenarbeitslosigkeit einhergehenden Wirtschaftskrise tritt der Ingenieur Wilhelm Sehmisch (Max von der Groeben) in Helenes Leben. Der glühende NSDAP-Anhänger macht ihr acht Jahre nach Karls Tod einen Heiratsantrag, auf den sie erst eingeht, als er der Halbjüdin eine neue arische Identität verschafft: Alice Schulze, verheiratete Sehmisch. Schon in der Hochzeitsnacht kommt es zum Bruch: Helene ist keine Jungfrau mehr. Als sie den 3155 Gramm schweren „Prachtkerl“ Peter zur Welt bringt, zieht er aus. Helene alias Alice arbeitet im Schichtdienst als Krankenschwester, während sich ihre Nachbarin Kozinska (Lisa-Marie Janke) bisweilen mehr schlecht als recht um Peter kümmert. Der nach Kriegsende auf dem Hof von Onkel Sehmisch lebt, während sein Vater in den Westen rübergemacht hat und seine Mutter sich mit ihrer Schwester ein Zimmer in Berlin teilt…
Der Roman „Die Mittagsfrau“ ist ein facettenreiches Geschichtspanorama des 20. Jahrhunderts aus der Sicht einer ehrgeizigen jungen Frau, die sich nicht mit der traditionellen, von den Nazis wiederbelebten Rolle als Hausfrau und Mutter abfinden will. Nach der zweiten, aus einer Vergewaltigung hervorgegangen Schwangerschaft kann sie keine enge Beziehung zu ihrem Sohn aufbauen, den sie schon früh in fremde Hände gibt. Ihr – im Roman – bereits dritter Versuch, Peter zu verlassen, ist erfolgreich.
Meike Hauck und Barbara Albert („Nordrand“, „Böse Zellen“, „Fallen“) halten sich, besonders was das dritte Buch-Kapitel „Nachtfalle“ betrifft, bisweilen wörtlich an die Vorlage. Die sowohl um zahlreiche Figuren wie den Vater der Schwestern, den Buchdrucker Ernst Ludwig Würsich, und den Maler Heinrich Baron als auch um Nebenstränge wie Marthas Liaison mit dem Heidelberger Botanik-Studenten Arthur Cohen gekappt ist. Das ständige Verschieben der Zeitachse sorgt für zusätzliche Spannung, hinzuerfundene Figuren der Zeitgeschichte wie die aus Galizien stammende Berliner Dichterin Mascha Kaléko (Genet Zegay) verdichten die Atmosphäre der Zwischenkriegszeit.
„Die Mittagsfrau“ startet am 28. September 2023 in den Kinos, bei uns zu sehen im Casablanca Bochum, Roxy Dortmund, Astra Essen und Cinema Düsseldorf.