
Leinwand-Durchbruch für Joachim Król
Wir können auch anders
Rudi Kipp (trainierte für die Rolle in einem Behindertenheim: Joachim Król), genannt Kipp, ist ein Heimzögling mit leichtem Sprachfehler, der sich ganz weltmännisch gibt. Sein Bruder Moritz, genannt Most (Horst Krause), ist schon rein äußerlich das genaue Gegenteil: ein gutmütiger Hüne, wortkarg – aber nicht sprachlos, und wie Kipp weder des Schreibens noch des Lesens mächtig.
Beide machen sich mit einem alten Pritschenwagen, der kaum die Schlaglöcher der Nebenstraßen der neuen Bundesländer übersteht, auf nach Mecklenburg-Vorpommern. Ihre Oma ist gestorben und hat den beiden ein, wie sie hoffen, stattliches Anwesen an der Ostsee vermacht. Und so begeben sie sich, ausgestattet mit notariell beglaubigtem Erbschein und den buchstäblich letzten Kröten in den wilden Osten.
Der Wagen macht häufiger schlapp und auf einer dieser unfreiwilligen Unterbrechungen stoßen sie auf den fahnenflüchtigen Rotarmisten Viktor (Paraderolle für Uwe Dag Berlin), der in seine Heimat am Don zurückkehren möchte. Nun wird aus dem Duo ein Trio infernale, das dann zunehmend weniger Rücksichten kennt. Denn Viktor hat mit seiner Kalaschnikow einfach die besseren Argumente. Mit Wegelagerern wird kurzer Prozess gemacht, bald pflastern Leichen ihren Weg. Als sie von einem Autohändler aufs Kreuz gelegt werden, rächen sie sich an einem anderen Neureichen im Ossiland, den sie um seinen Wagen prellen. Und ganz nebenbei muss dessen Kompagnon auch noch sein Leben lassen.

Die Polizei ist dem Trio inzwischen auf der Spur. Aber die trotteligen und dabei ausgesprochen selbstüberheblichen Beamten beherrschen nur scheinbar die moderne Technik der Nach-Wende-Zeit, es fehlt an Grips, diese auch sinnvoll einzusetzen. So können die Brüder und ihr russischer Freund immer wieder entwischen, zuletzt aus einer Dorfkneipe, wo sie die hübsche Kellnerin, die sogleich auf den jungen Russen abgefahren ist, als „Geisel“ mitnehmen – auf einem von zwei Pferden. Und diese Nadine (Sophie Rois) ist es auch, die die Polizei in einer beinahe klassischen, auf den zweiten Blick dann aber doch ironisch gebrochenen Showdown-Szene am Ostseestrand auf die falsche Fährte lockt. So kann das zum Quartett aufgestockte Trio mit einem gekaperten Schiff nach Russland fliehen. Doch bis sie am stillen Don in Sicherheit sind, Viktor von seiner alten Mutter und der Dorfgemeinschaft herzlich empfangen wird und Kipp vergeblich versucht, die Kolchosebauern mit modernen Aufzuchtmethoden aus dem Westen vertraut zu machen, nehmen die abenteuerlichen Verwicklungen noch lange kein Ende...
Ein tolldreistes Road-Movie, das nicht von seiner Story lebt – gibt’s das? Detlev Buck macht es mit „Wir können auch anders“ vor: Er treibt mit dem schieren Entsetzen seinen Spaß und kümmert sich herzlich wenig um die Plausibilität der hanebüchenen Geschichte. Diese lebt von den vielen kleinen Begebenheiten am Rande. Und von Joachim Król in der Hauptrolle. Wie der Herner Schauspieler mit dem Sprachfehler seiner Figur Kipp umgeht, wie er als schmächtiges Stehauf-Männchen seinem bärenstarken „Bruder“ und dessen Wassersport-Marotten umgeht, wie sie in Gutsherrenart im vermeintlichen Erbhof auftreten – das ist große Klasse deutscher Komödienkunst.
Die so unspektakulär daherkommende anarchische Ost-West-Komödie ist keineswegs unpolitisch, lässt aber den Holzhammer in der Dramaturgenschublade lässt. Ein paradigmatisches Beispiel hierfür ist die Dorfkneipe, wo arbeitslose Jugendliche abhängen, mit kurz geschorenen Haaren offenbar der „rechten Szene“ zugehörig. Es sind Gestalten ohne Perspektive, die bereit sind, jeden Strohhalm zu ergreifen, um Halt zu finden in haltloser Zeit. Was hätten andere Regisseure daraus alles gemacht. Detlev Buck begnügt sich mit einigen stummen Bildzitaten und einem Mini-Auftritt als furchtsamer Skinhead – der Rest bleibt der Intelligenz des Zuschauers überlassen. Die 92-minütige Underdog-Geschichte, deren Helden Menschen wie du und ich sind, die freilich kriminelle Wegelagerer und nicht weniger gerissene Neu-Kapitalisten in Neufünfland zur Strecke bringen, ist rund um das brandenburgische Kreisstädtchen Zehdenick entstanden, übrigens der Partnergemeinde von Hernes Nachbarstadt Castrop-Rauxel. Die Besetzung bringt mit Heinrich Giskes und Uwe Dag Berlin zudem die Wiederbegegnung mit ehemaligen Bochumer Theater-Schauspielern.
„Wir können auch anders“ war der Durchbruch Joachim Króls auf der Kinoleinwand, der ihm bei der Uraufführung 1993 im Wettbewerb der Berlinale einen mächtigen Rummel bescherte. Beim Deutschen Filmpreis 1993 gabs das Filmband in Silber in der Kategorie „Bester Film“ und gleich drei Filmbänder in Gold für Joachim Król und Horst Krause („Darstellerische Leistung), Ernst Kahl und Detlev Buck („Bestes Drehbuch“) sowie für Detlef Petersen („Beste Musik“). Wer nicht kostenpflichtig bei Amazon Prime oder Magenta TV streamen möchte, kann das köstliche Roadmovie am Montag, 21. Dezember 2020, um 23.30 Uhr im Dritten Programm des Norddeutschen Rundfunks genießen.
Vergangene Termine (1) anzeigen...
- Montag, 21. Dezember 2020, um 23:30 Uhr