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Recherchiert eine Bogenius-Reportage an der Grenze zwischen Mexiko und USA nach: „Chronik“-Mitarbeiter Juan Romeo (Elyas M’Barek).

Neu in der Filmwelt Herne

'Tausend Zeilen'

Ein investigativer Reporter aus dem Ressort Gesellschaft des Hamburger Nachrichtenmagazins „Der Spiegel“ liefert besondere, häufig bewegende Reportagen und Interviews, die wesentlich zur Stabilisierung der Auflage beitragen. Alle wurden vor Drucklegung durch die unabhängig von der Redaktion tätige, in Fachkreisen legendäre „Dokumentation“ geprüft und abgenommen. Ihr Autor Claas Relotius ist in der Folge geradezu mit Preisen überhäuft worden. Aber: Sowohl die Geschichten als auch die Interviews waren – ganz oder zum Teil – frei erfunden.

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Sein „Spiegel“-Kollege, der freie Mitarbeiter Juan Moreno, hat 2018, eher unfreiwillig und gegen heftigen Widerstand seiner Arbeitgeber, die Fälschungen aufgedeckt. Dabei stößt er an Grenzen, die nicht nur seinen Job gefährden, sondern auch seine Familie. In seinem im September 2019 bei Rowohlt in Hamburg erschienenen Bericht „Tausend Zeilen Lügen – Das System Relotius und der deutsche Journalismus“ erzählt Moreno auf 288 Seiten vom Aufstieg und Fall eines jungen Starjournalisten – die unglaubliche Geschichte einer mit sechzig Fake-Stories beispiellosen Täuschung.

Mit Lars Bogenius (Jonas Nay, Mitte) sind seine „Chronik“-Chefs Christian Eichner (Jörg Hartmann, l.) und Rainer M. Habicht (Michael Maertens) hochzufrieden.

Dabei schrieb Claas Relotius immer genau das, was sein Ressortchef Matthias Geyer und der designierte Chefredakteur Ullrich Fichtner lesen wollten. Weshalb seine Fälschungen jahrelang unentdeckt bleiben konnten. In seinem Sachbuch hat sich Juan Moreno nicht zuletzt die Frage gestellt, was diese Verhältnisse über den Qualitäts-Journalismus, den ein Medium wie „Der Spiegel“ für sich reklamiert, aussagen.

Diese Frage haben sich Drehbuchautor Hermann Florin und Regisseur Michael „Bully“ Herbig in ihrer Leinwandadaption „Tausend Zeilen“, die am 21. September 2022 im Münchner Arri-Kino uraufgeführt wurde und am 29. September 2022 bundesweit startete, leider nicht gestellt. In ihrer hybriden Mischung aus Realfilm mit verschlüsselten Namen und fiktiver Familienkomödie mit Marie Burchard als Gattin und vierfacher Mutter Anne Romero sowie Kurt Krömer als Fahrkartenkontrolleur, stehen die beiden Protagonisten Lars Bogenius (Jonas Nay als Claas Relotius) und Juan Romero (Elyas M’Barek als Juan Moreno) auch als Erzähler ganz im Mittelpunkt einer die vierte Wand durchbrechenden Satire.

Zum Thema privater Milizen an der Grenze zwischen Mexiko und den USA sollen Romero, freier Mitarbeiter des hier „Chronik“ genannten Nachrichtenmagazins, und der vielfach preisgekrönte Redakteur Bogenius eine investigative Titelstory verfassen: Ersterer von Südmexiko, Letzterer von Arizona aus. Während Bogenius seine gefälschte Story am Pool eines Luxushotels in Los Angeles in den Laptop tippt, recherchiert Romero mit seinem österreichischen Fotografen Milo (Michael Ostrowski) vor Ort.

Als er Zweifel an der Seriosität des Skriptes seines prominenten Ko-Autors äußert, schenken ihm seine Chefs Rainer M. Habicht (Michael Maertens als Matthias Geyer) und Christian Eichner (Jörg Hartmann als Ullrich Fichtner) keinen Glauben. Weshalb sich Juan und Milo auf eigene Kosten nach Arizona aufmachen und dort vom angeblichen Informanten Jack Webber (Jeff Burrell) erfahren, dass er Lars Bogenius nicht zu Gesicht bekommen hat. Den Stein ins Rollen bringt freilich erst ein prominenter amerikanischer Rechtsanwalt, der Habicht und Eichner telefonisch auf dem Golfplatz erreicht…

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„Die Wahrheit. Sonst nichts“ lautet der Werbespruch des „Chronik“-Magazins. „Tausend Zeilen“, die, so der Warner-Pressetext, „moderne Mediensatire“, am 21. September 2022 im Münchner Arri-Kino uraufgeführt und am 29. September 2022 bundesweit gestartet, ist einer eigenen Wahrheit verpflichtet, wie Michael „Bully“ Herbig im Presseheft bekundet: „Ähnlichkeiten mit unwahren Ereignissen könnten zufällig zutreffen. Die Fakten werden aber mit Sicherheit verdreht, damit´s am Ende stimmt!“ Also: Mainstream-Unterhaltung statt Arthouse-Tiefgründigkeit. Hat mir, gerade auch durch den außergewöhnlichen kinogemäßen Zugriff auf die Sachbuch-Vorlage, 93 höchst unterhaltsame Minuten vor der großen Leinwand ohne Risiken und Nebenwirkungen beschert. Zu sehen auch in der Filmwelt Herne.

| Autor: Pitt Herrmann