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Liebesnest über den Dächern von Wien: Liv Lisa Fries (Dr. Theresa Körner) und Murathan Muslu (Peter Perg).

Thriller im Stil der 1920er Jahre

Neu im Kino: „Hinterland“

Der Erste Weltkrieg ist verloren, die kakanische Doppelmonarchie, in der einst die Sonne nicht unterging, ist untergegangen, Stefan Zweigs Welt von Gestern existiert nicht mehr. „Das wars dann wohl“, verabschiedet Oberstleutnant Peter Perg (Murathan Muslu) seine Leute, die nach zweijähriger russischer Gefangenschaft in die einst glanzvolle Donaumetropole zurückkehren. Den meisten Kameraden bleibt zunächst nur das Obdachlosenheim „Rotes Haus“, während Perg in seine alte Wiener Wohnung zurückkehren kann. Wie er von der Hausbesorgerin (Margarethe Tiesel) erfährt, ist seine Gattin Anna (Miriam Fontaine) mit Tochter Marlene zu ihrer Schwester aufs Land nach Gumpoldskirchen gezogen, nachdem der Krieg auch das Vermögen der Familie vernichtet hat.

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Als man am anderen Tag an der Donau bei einer Leiche einen Zettel mit dem Namen Perg findet, steht der einst erfolgreiche, ja geradezu legendäre Kriminalinspektor vor einem Kieberer-Comeback. Doch zuvor landet Perg selbst hinter Gittern: ein Taschendieb hat ihm im Bahnhofsgedränge die Brieftasche mit den Entlassungspapieren gestohlen. Bei dessen Verfolgung wird er von zwei Polizisten als verdächtige Person festgenommen. Aber bald wieder ausgelöst von der so coolen wie attraktiven Gerichtsmedizinerin Dr. Theresa Körner (Liv Lisa Fries), welcher er einst das Leben rettete und die ihn sogleich zum Tatort einer höchst merkwürdigen Bluttat führt.

Die Blue-Screen-Technik machts möglich: Die Zeit ist aus den Fugen im Nachkriegs-Wien des Jahres 1920.

Denn Herrmann Kreiner (Timo Wagner), Pergs ehemaliger Oberleutnant, ist nicht nur hinterrücks mit einer Drahtschlinge erwürgt, sondern auch noch entkleidet und posthum mit ausgebreiteten Armen an ein Kreuz genagelt worden. Pergs Anwesenheit passt dem jungen, ehrgeizigen Kommissar Paul Severin (Max von der Groeben) gar nicht – und noch weniger, dass dessen Mitwirkung auch noch von Polizeirat Victor Renner (Max Limpach), seinem alten Mitstreiter aus der Vorkriegszeit, gebilligt wird. Noch in der gleichen Nacht trifft es einen Oberst aus Pergs Regiment: Seiner Leiche wurden bis auf einen Daumen die Finger und Zehen abgeschnitten und mit einer neunschwänzigen Katze der Rücken aufgeschlitzt. Das Folterinstrument besorgt sich Perg mit ein paar Groschen bei Straßenjungs, die unter einer Donaubrücke herumlungern und Zeuge der Tat eines offensichtlichen Serienmörders waren.

Dass Peter Perg nun wieder ganz offiziell im Polizeipräsidium tätig ist, missfällt dem Oberpolizeirat Graf von Starkenberg (Germain Wagner), der ihn der bolschewistischen Indoktrination während der russischen Kriegsgefangenschaft verdächtigt. Der Blaublüter gehört zu den Nationalisten, die sich offenbar als einzige um die depravierten Heimkehrer im „Roten Haus“ wie Kovacs (Aaron Friesz) bemühen, ihnen eine Perspektive geben. Selbst Theresa Körner spricht im Kaffeehaus von einer neuen Zeit, welche Möglichkeiten für alle, die sich nicht gegen Veränderung sperren, bereithält. Wobei sie bei Perg auf taube Ohren stößt, der allerdings auch andere Sorgen hat. Er müsste längst bei Frau und Tochter in Gumpoldskirchen vorbeischauen. Doch dann erfährt er von der Hausbesorgerin, dass sich sein Spezi Victor zuletzt rührend um Anna und Marlene gekümmert hat, was diesem nun eine blutige Nase einbringt.

Der eh‘ schon nachts von Alpträumen gebeutelte Perg wird seine Dämonen nun auch am Tag nicht mehr los, besäuft sich sinnlos und pinkelt, von Gott, Kaiser und Vaterland verlassen, auf den Altar einer Kirche. Was die Polizei auf den Plan ruft – zum Glück des reaktivierten Kriminalisten, welcher fast das dritte Opfer des Mörders geworden wäre. Theresa Körner ist aufgefallen, dass das erste Opfer von 19 Pflöcken durchbohrt worden ist und dem zweiten 19 Finger und Zehen abgeschnitten wurden: Die Zahl 19 könnte der Schlüssel zur Aufklärung des Falls sein. Perg und Severin kommen sich näher, nachdem Ersterer berichtet, dass er Korporal Josef Severin (Matthias Schweighöfer) gekannt hat, Pauls im Krieg verstorbenen älteren Bruder.

Drittes Opfer ist ein ehemaliger Rittmeister der Kavallerie, dessen Leiche von 19 Ratten aufgefressen wird. Perg erkennt in den bisherigen Opfern Mitglieder eines Kriegsgefangenen-Komitees, dem er selbst angehört hat. Als Bauer (Stipe Erceg) erschossen wird, glaubt die Polizei, den Mörder unschädlich gemacht zu haben…

„Gott ist in dem Krieg gestorben. Jetzt bin ich der Gott der Rache“: Der hochspannende Thriller des Oscar-Preisträgers Stefan Ruzowitzky („Die Fälscher“) ist nichts für schwache Nerven. Er führt nicht nur in das Wien der frühen Zwanziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts, sondern huldigt auch dem expressionistischen (Stumm-) Film dieser Zeit, explizit Robert Wienes „Das Kabinett des Dr. Caligari“. Der Regisseur im Presseheft: „‘Hinterland‘ ist ein Film über toxische Männlichkeit. Perg und hunderttausende seiner Kameraden kehren aus dem Krieg zurück, der ultimative Ort, an dem sich Männer miteinander messen können. Sie haben diesen Krieg verloren, sie fühlen Scham und Zorn, sie leiden an ihrem ‚Versagen‘. Sie reagieren darauf mit blinder Aggression – gegen andere, gegen sich selbst. In diesen neuen Zeiten nach dem Großen Krieg fühlt sich nichts richtig oder einfach an für Männer wie Perg. Alles scheint deformiert, schief, aus dem Gleichgewicht.“

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Der Hundertminüter, uraufgeführt am 6. August 2021 auf dem Festival in Locarno und dort mit dem Publikumspreis ausgezeichnet, feierte seine Deutsche Erstaufführung am 2. Oktober 2021 beim Filmfest Hamburg und startet am 7. Oktober 2021 in den Kinos, in unserer Region u.a. im Casablanca Bochum und im Essener Luna im Astra.

| Autor: Pitt Herrmann