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Belcanto vom Feinsten: Rina Hiramaya (Desdemona) und Khanyiso Gwenxane (Otello)

Rossinis „Otello“ in Gelsenkirchen

Mit Ovationen gefeiertes Belcanto-Fest

In Gioachino Rossinis siebzig Jahre vor der heute weitaus bekannteren Verdi-Oper entstandener Shakespeare-Adaption „Otello ossia il moro di Venezia“, nach dem verheerenden Brand im Februar 1816 nicht im Teatro San Carlo, sondern am 4. Dezember 1816 im Teatro del Fondo in Neapel uraufgeführt, kehrt Otello (Khanyiso Gwenxane) als siegreicher Feldherr aus der Schlacht gegen die Türken nach Venedig zurück. Nun strebt der Afrikaner seinen gesellschaftlichen Aufstieg an – auch durch die Verbindung mit Desdemona (Rina Hirayama), der Tochter des einflussreichen Venezianers Elmiro (Urban Malmberg).

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Die auf die Anerkennung des Außenseiters neidischen und zudem auf seinen Erfolg bei Desdemona eifersüchtigen Rodrigo (Benjamin Lee), dem Elmiro seine inzwischen heimlich mit Otello verheiratete Tochter versprochen hat, und Jago (Adam Temple-Smith) zetteln mit Hilfe eines Briefes eine – hier auf dem Golfplatz geschmiedete - Intrige an, die in ein Duell zwischen Rodrigo und Otello mündet. Und in der Ermordung Desdemonas durch den vermeintlich Gehörnten gipfelt, der sich am Ende ins eigene Messer stürzt…

Für die am Premierenabend des 23. Oktober 2021 zu Recht mit Ovationen gefeierte knapp dreistündige Neuinszenierung Manuel Schmitts (zuletzt Georges Bizets „Die Perlenfischer“ am MiR) in Gelsenkirchen hat Julius Theodor Semmelmann ein modernes, durch raumhohe Fenster scheinbar sehr offenes Haus Europa auf die Bühne gestellt, dessen Dach in seitenverkehrten Versalien das Motto der Europäischen Union, „In varietate concordia“ („In Vielfalt geeint“) ziert.

Der italienische Rationalist Giuseppe Terragni mag Pate gestanden haben: ein modernes, offenes „Haus Europa“ wird bald zur Festung.

Dieses Gebäude, das gerade für eine politische Konferenz unter den stark verblassten EU-Sternen hergerichtet wird (Carola Volles lässt die auch äußerlich als konform gekennzeichnete „weiße“ venezianische Gesellschaft in heutigem Business-Look auftreten), verwandelt sich bald in eine stacheldrahtbewehrte Festung Europa, in ein vergeblich von Sandsäcken geschütztes museales Refugium kontinentaler Kultur, in dem kein Platz für Einflüsse von außen ist. Von den flutenden Wellen der Migration über das Mare Nostrum ganz zu schweigen.

Es ist eine höchst politisch-moralische Inszenierung, die auch vor drastischen szenischen Mitteln nicht zurückschreckt, wenn etwa eine Horde als Erwachsene kostümierter und geschminkter Kinder Otello mit umgehängten Baströckchen verspottet. Das wirkt besonders im ersten Akt als aufdringliches Zeigefinger-Theater für ein ganz offenbar unterschätztes Publikum. Die permanente Geschäftigkeit eines ganzen Heeres von Statisten nervt spätestens im zweiten Akt: Rossinis „Otello“ ist ein wahres Belcanto-Feuerwerk mit sage und schreibe sechs Tenören (mit Tobias Glagau als Gondoliere und Camilo Delgado Diaz als Lucio), bis es im dritten Akt – szenisch nach der Sintflut – für die Entstehungszeit der Oper sehr avantgardistisch-romantisch zugeht.

Und dann geht plötzlich das Saallicht an und die Zuschauer dürfen mit zuvor verteilten Stimmkarten zwischen dem tragischen Finale von 1816 und der Happy-End-Version wählen, die Rossini für die Karnevalssaison 1819/20 im römischen Teatro Argentina geschrieben hat. Eine Fake-Entscheidung, so schwarz-weiß wie die Stimmkarte: Neben dem veränderten, seinem Werk „Ricciardo e Zoraide“ (1818) entnommenen Schluss hatte sich Rossini zuvor schon aus dem Fundus anderer Opern aus seiner Feder bedient, so im 1. Akt aus „Elisabetta regina d’Inghiterra“ (1815) und um 2. Akt aus „Tancredi“ (1813). Zudem ist der hier nicht gespoilerte finale Knalleffekt der „Originalfassung“ eine reine Erfindung des jungen Regisseurs Manuel Schmitt. Die aus heutiger Sicht politisch stimmig sein mag, das ganze Abstimmungs-Procedere aber zur Farce degradiert und damit überflüssig macht.

Bleibt die Musik. Und die ist, unter der Leitung Giulano Bettas, nur grandios zu nennen. Einschließlich des Auftritts zweier Solisten auf den Brettern statt im Graben, der Hornistin Sietske van Wieren bei der Siegesfeier im 1. Akt sowie, von einem Balkon aus, der Harfenistin Lucilla Weyer im 3. Akt. Der Rossinische „Otello“ ist eine Ausgrabung, welche das Repertoire unserer Opernhäuser bereichert. Sie ist in Gelsenkirchen, mit Camilo Delgado Diaz vom Jungen Ensemble am MiR, ausschließlich mit eigenen Kräften besetzt worden (noch zu nennen Lina Hoffmann als Desdemonas Vertraute Emilia) – was für ein Triumph für das Haus von Michael Schulz, dem Intendanten einer städtischen Bühne mit Strahlkraft über Nordrhein-Westfalen hinaus.

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„Otello“ steht wieder am 31. Oktober 2021, 6. und 13. November 2021, 5. und 26. Dezember 2021 sowie am 9. und 16. Januar 2022 auf dem Spielplan im Großen Haus am Kennedyplatz in Gelsenkirchen, Karten unter musiktheater-im-revier.de oder Tel. 0209 – 4097 200.

Vergangene Termine (7) anzeigen...
  • Sonntag, 31. Oktober 2021, um 18 Uhr
  • Samstag, 6. November 2021, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 13. November 2021, um 18 Uhr
  • Sonntag, 5. Dezember 2021, um 18 Uhr
  • Montag, 6. Dezember 2021, um 18 Uhr
  • Sonntag, 9. Januar 2022, um 18 Uhr
  • Sonntag, 16. Januar 2022, um 18 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann