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Steven Scharf als Judas.

Überragender Steven Scharf

Judas am Schauspielhaus Bochum

„Sind alle drin?“ fragt ein Mann mit laut vernehmlicher Stimme. Naturgemäß ist die Bochumer Premiere am Dienstag (7.5.2019) ausverkauft, nur die sechs Reihen auf dem Balkon des Schauspielhauses sind besetzt, das Parkett ist leer. Er zündet eine Kerze an, sie strahlt ein mattes, sternenförmiges Licht aus, welches den Sprechenden nicht wirklich erhellt. Dessen Konturen sind erst allmählich mehr zu erahnen als wirklich zu erkennen: Steven Scharf kauert ohne Netz und doppelten Boden auf einer waghalsig hohen Leiter, die mit dem geschlossenen Eisernen Vorhang verbunden ist. Er ist nackt, kehrt den Zuschauern den Rücken zu. Erst im letzten Viertel des knapp einstündigen, mit Ovationen gefeierten Monodramas wendet er sich ihnen zu.

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„Ich bin an dem Tag geboren, an dem die Sonne ihren höchsten Punkt im Jahr erreicht und zu der Stunde, in der ihr Schatten am längsten ist, in einem Land, in dem viel gekämpft wurde, viel gelitten, viel gehofft, viel gebetet, in einer Zeit, in der niemand wusste, wohin genau wir gingen und sich jeder wünschte, dass es irgendwann besser werden würde. / Ich war der Sohn eines Mannes und einer Frau, die sich nicht besonders liebhatten und sich auch nicht besonders hassten, ein Kaufmann und eine Hebamme. Ich bekam einen Namen, der schon seit Generationen dem ersten Sohn in der Familie gegeben wird, als Zeichen der Verbundenheit mit dem fernen Vorvater des Volkes, dem ich angehöre / Ich war stolz, ja / Auf diesen Namen / Ich sprach ihn gerne laut aus."

Sein Name ist Judas Ischariot und sein Kuss beim Ostermahl hat die Welt verändert. Die niederländische Dramatikerin Lot Vekemans gibt in ihrem Stück Judas dem Jünger, der Jesus für dreißig Silberlinge verriet, ein Gesicht und – erstmals - eine unbekannte eigene Geschichte. Denn: „Mein Name ist eine andere Geschichte. Nicht meine Geschichte.“ Steven Scharfs rollendes R ist so manieristisch wie das Verschleifen ganzer Worte. Sein Judas erzählt von sich als Mensch, der sich Jesus als König erträumte, als gerechten Herrscher und Befreier aus römischem Joch. Und reflektiert zugleich die eigene Erzählweise. Ein klassischer V-Effekt wie Steven Scharfs Fahndung nach einem Besucher, der angeblich die Eintrittskarte nicht bezahlt hat.

Ist mein Leben eine Sammlung von Fußabdrücken? Judas stellt der Menschheit, die seit 2.000 Jahren vergeblich versucht, ihn zu begreifen, Fragen: Was wäre gewesen, wenn ich in Gethsemane bei Jesus geblieben wäre? Was wäre aus ihm geworden? Und was wäre aus mir geworden. Und vor allem: Was wäre aus uns allen und dem Christentum geworden? Judas, am 2. März 2007 vom Theater De Toneelschuur in Haarlem uraufgeführt, handelt von einem Mann, dessen Name ausschließlich für Verrat steht, der jahrhundertelang der Schmähung preisgegeben wurde. „Kein Licht ohne Schatten, keine Erlösung ohne Judas“: Ohne den Judaskuss wäre das Christentum nie zu einer der großen Weltreligionen geworden.

Mit Steven Scharf, 1975 in Leinefelde, im katholisch geprägten thüringischen Eichsfeld geborenes langjähriges Ensemblemitglied in Basel und München, in der Titelrolle hat der in einem strenggläubigen protestantisch-calvinistischen Elternhaus aufgewachsene Johan Simons Judas am 19. Dezember 2012 als Deutschsprachige Erstaufführung an den Münchner Kammerspielen herausgebracht in einer Übersetzung von Eva M. Pieper und Christine Bais. Sie bereichert nun den Spielplan des Schauspielhauses Bochum enorm – und ist zugleich ein vielversprechender Vorgeschmack auf Simons Büchner-Inszenierung Woyzeck am Burgtheater Wien, mit der Scharf in der Titelrolle in der kommenden Spielzeit nach Bochum zurückkehrt. Obwohl die Dimension des weitaus größeren Bochumer Theaters mit der des gedrungenen, über seitliche Balkone verfügenden Münchener Jugendstil-Juwels nicht vergleichbar ist, hat die geradezu körperlich erfahrbare Wucht der Bühnenpräsenz Steven Scharfs, für dieses Solo mit dem Gertrud-Eysoldt-Ring ausgezeichneter Schauspieler des Jahres 2013, nichts an Überwältigung verloren. Im Gegenteil: Wolfgang Göbels Licht wirft Scharfs Silhouette auf die hölzerne Verkleidung zu beiden Seiten des Parketts – ein auf Golgatha, den Tod Jesu verweisendes Bild.

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Lot Vekemans wurde 1965 geboren. Sie studierte Soziale Geografie an der Universität in Utrecht und besuchte die Writerscholl Amsterdam. Seit 1995 schreibt sie Theaterstücke, für die sie zahlreiche Preise erhielt, darunter für Gift. Eine Ehegeschichte, das als Übernahme aus Gent wieder am 13. Mai und 27. Juni 2019 in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum zu sehen ist. Lot Vekemans, die im niederländischen Nieuw Balinge lebt, über ihr Stück Judas: „Ich denke, es gibt bei uns eine einseitige Richtung des Blicks auf die Helden, auf das, was wir als größer und höher und besser erachten, als wir es selbst sind. Wir lieben es, zu verehren, so wie wir es lieben, verehrt zu werden. Aber in beiden Fällen gibt man seine Macht an jemand anderen ab. Judas wird von Menschen verhöhnt, damit sie ihre eigenen Seelen reinwaschen. Es ist auffällig, dass in Porträts, die über die Jahrhunderte entstanden sind, Judas immer hässlicher und böser dargestellt wurde.“

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  • Freitag, 24. Mai 2019, um 20 Uhr
  • Freitag, 7. Juni 2019
  • Sonntag, 16. Juni 2019, um 20 Uhr
  • Freitag, 28. Juni 2019, um 20 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann