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Das Cover der CD der Patric Siewert Group.

Eine Kolumne von Hans-Jürgen Jaworski

Jetzt ist die Zeit

„Wenn nicht jetzt, wann denn dann…?“ - diesen Satz, inkl. individueller Konkretionen, habe ich in den bisherigen Corona-Wochen häufig gehört. Meine persönliche Konkretion: „Wenn ich nicht jetzt mein Atelier aufräume, wann denn dann!?“ Zwar dauerte es noch einige Tage, bis ich die Corona-Lähmung überwunden und dann endlich angefangen hatte; aber mittlerweile habe ich einen echten ‚Ehrgeiz beim Aufräumen entwickelt. In manchen Stunden erlebe ich geradezu einen Aufräum-Sortier-Entstaubungsrausch! In solch einer Phase sah ich plötzlich vor einigen Tagen unter einem Berg von Collage-Papieren, Aquarellblöcken, Farbstiften, Klebstofftuben und verklebten Pinsel diese CD von dem Herner E-Bassisten Patric Siewert Group.

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Natürlich ist mir sofort der Titel ins Auge gestochen: „difficult times“ - „schwierige Zeiten“ auf gut Deutsch. Passt jetzt wie die Faust aufs Auge. Da sind wir uns ja alle einig: es sind wirklich schwierige Zeiten! Und diese schwierigen Zeit sind auch dadurch zusätzlich schwierig, weil sie nicht gerecht sind. Lasten und Nöte dieser Krise sind doch recht unterschiedlich verteilt. Ich muss bekennen, dass ich keine großen Schwierigkeiten habe, außer der Tatsache, dass ich deutlich zur Risikogruppe der Alten gehöre und deshalb meine Kontakte absolut minimieren muss, was für eine gewisse Zeit nicht schlimm ist. Aber ich muss mir keine Sorgen darüber machen, woher jetzt das Geld für den laufenden Monat herkommen soll, wie es zum Beispiel bei den Musikern dieser CD der Fall ist, die als Jazzer schon in normalen Zeiten Schwierigkeiten haben, sich über Wasser zu halten (siehe Cover-Foto). Aber jetzt finden keine Auftritte statt, bei denen wenigstens ein paar Euro im Hut liegen, und vor allem kein Musikunterricht - der Festposten im Budget der meisten Musiker. Aber mir scheint, dass trotz allem diese weniger jammern als jene, bei denen es immer noch jeden Monat stimmt.

Uns wird ja immer wieder eingetrichtert, dass diese Corona-Krise die schwerste Krise seit dem 2. Weltkrieg sei. In globaler Sicht kann das stimmen, „punktuell“ im Blick auf einzelne Länder oder Regionen irgendwie nicht. Ich wurde kurz nach dem Ende des 2.Weltkrieges hier im Ruhrgebiet geboren. Die einzige schwierige Zeit hier, an die ich mich erinnern kann, war die sogenannte Ölkrise im Herbst 1973 und an das Fahrverbot an vier Sonntagen. Aber diese Krise, auch wenn sie deutliche wirtschaftliche Folgen hatte, war dennoch harmlos im Vergleich zur jetzigen. Insofern stimmt hier diese Aussage von der schwersten Krise in den letzten 75 Jahren. Aber allein schon der Blick in den Ostteil unseres Landes stellt diese Aussage massiv in Frage. Erinnern wir uns noch an den Volksaufstand vom 17. Juni 1953 in Ost-Berlin, der von Sowjetpanzern blutig niedergeschlagen wurde? Oder an den Mauerbau nur acht Jahre später, also an Todesstreifen und Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze. Drüben konnte man zwar ohne Mundschutz die Wohnung verlassen und ohne denselben vor Mund und Nase einkaufen, aber wenn man nach West-Berlin gelangen wollte, riskierte man sein Leben, und die ersehnten Bananen gab es einfach nicht im Laden.

Ferner: Wir werden rund um die Uhr mit Corona-Informationen überschüttet. Mittlerweile ist jeder von uns ein kleiner Experte. Wir wissen Bescheid über R-Faktor und Übersterblichkeit, darüber, welche Versuche gemacht werden, um möglichst bald einen Impfstoff produzieren zu können, darüber, wie wir eine Schutzmaske richtig anlegen oder wie viele Intensiv-Betten wir in unseren Krankenhäusern haben. Sicher, es ist tausendmal besser informiert als uninformiert zu sein. Aber vielleicht täte ein Gedanke an die unvorstellbare hohe Zahl von Menschen gut, die es sich nicht leisten können, darüber nachzudenken, selbst wenn sie unsere Informationen hätten, weil sie weder ein Dach überm Kopf noch etwas zu Essen haben. Und all denjenigen, denen das Krankenhausbett samt Krankenhaus unterm Hintern weggebombt worden ist, werden unsere Befürchtungen im Blick auf die Belastbarkeit des Gesundheitssystem wie Erscheinungen aus einer anderen Galaxie vorkommen müssen.

Der werte Leser wird mir vielleicht vorwerfen, dass diese Hinweise, denen immer ein Vergleich nach unten zugrunde liegt, ein Stück unfair seien und von unseren Problemen ablenken wollen. Stimmt und stimmt nicht. Unfair sind diese Hinweise nicht. Unfair ist das Verhalten einer globalisierten neoliberalen Wirtschaft, die zu solchen menschenwürdigen Lebens-und Sterbenssituationen führt. Ablenken, das stimmt, weil es uns gut tut, wenn wir über den Tellerrand unseres Lebensstiles schauen, damit wir ein Stück dankbarer und demütiger werden und weniger jammern und einfach der persönlichen und kollektiven Schwermut vorbeugen.

A propos Schwermut: Ich weiß, warum ich diese Musiker-Freunde bisher so wenig jammern hörte - sie machen Musik, ihre Musik, so oft wie möglich, volle Kanne aus vollem Herzen, auch dann, wenn nur wenige zuhören. Musik ist seit alters her ein Mittel gegen trübe Gedanken und schwermütige Gefühle. Diesen Wert der Musik hatte Martin Luther, der selbst Laute spielte und viele Lieder schrieb, immer wieder herausgestellt. So sagte er zum Beispiel: „Nichts auf Erden ist kräftiger, die Traurigen fröhlich, die Verzagten herzhaftig zu machen, die Hoffärtigen zur Demut zu reizen, die hitzige und übermäßige Liebe zu stillen und dämpfen, den Neid und Hass zu mindern und alle Bewegungen des Gemütes im Zaum zu halten und regieren. Nichts, sage ich, nichts ist kräftiger denn die Musik.“

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Ach, so, die Rückseite der CD-Hülle mit den einzelnen Titel, die passen ja fast noch besser. - Ne, heute nicht mehr, vielleicht morgen. Jetzt lege ich die CD in den Player. Ich will sie hören….und dabei räume ich weiter auf. Mit Musik geht ja bekanntlich alles besser, und sie hilft gegen Schwermut, wenn ich beim Aufräumen kein Licht am Horizont sehe. Jetzt erlaube mir einfach noch zum Schluss diesen Tipp für die weitere Corona-Zeit: Legen Sie ihre Lieblings-CD ein und räumen Sie auf. Wenn Sie kein Atelier haben, dann den Keller. Den haben Sie schon? Na, dann den Bücherschrank. Auch schon! Alles picobello gemacht während der letzten Wochen. Dann bleiben wohl nur noch die vier Wände des eigenen Herzens.

| Quelle: Hans-Jürgen Jaworski