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Franz Huchel (Helge Salnikau) geht beim Trafikanten Otto Trsnjek (Matthias Hecht) in die Lehre.

Allzu leichte Verführbarkeit totalitärer Ideen

„Der Trafikant“ im Prinz Regent

Weil seine mittellose Mutter Margarete Huchel (Sina Ebell) keinen anderen Ausweg weiß, muss ihr 17-jähriger Sohn Franz (Helge Salnikau) nach Beendigung der Schule seine Heimat, das Salzkammergut, verlassen, um in einem Wiener „Tempel des Geistes und des Genusses“ eine Lehre anzutreten. Es ist für den vaterlos aufgewachsenen Jungen nicht nur eine weite Zugreise von Nußdorf am Attersee in die österreichische Metropole, sondern eine Fahrt in eine andere, aufregende – und aufgeregte – Welt.

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Wir schreiben das Jahr 1937, die Götterdämmerung des austrofaschistischen Regimes von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg ist nicht mehr aufzuhalten. Immer mehr Österreicher bekennen sich zu ihrem Landsmann Adolf Hitler, auch wenn sie das Hakenkreuz-Abzeichen der – noch – illegalen Nazi-Partei hinterm Revers verbergen wie der Fleischhauer Roßhuber. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis der „Führer“ den Anschluss seiner Heimat ans Deutsche Reich mit militärischen Mitteln befiehlt.

Genuss, Lust und Laster

Otto Trsnjeks Nachbarn, das Metzger-Ehepaar Roßhuber (Sina Ebell und Matthias Hecht), hat den Trafikanten angezeigt – zum Entsetzen von Franz (Helge Salnikau).

„Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster“: Franz kann beim kriegsversehrten Trafikanten Otto Trsnjek (Matthias Hecht), im 2012 erschienenen Bestseller des Romanciers Robert Seethaler ein Jugendfreund seiner Mutter, in die Lehre gehen, wo er eine kleine Kammer im Laden für Tabakwaren, Zeitungen und Ansichtskarten bezieht. Nach und nach lernt der zunächst noch sehr naive Junge im Alsergrund an der Währinger Straße die große Welt kennen - und wie sie sich im Kleinen widerspiegelt. Zu den Stammkunden gehört auch der 82-jährige, von seiner Krebserkrankung gekennzeichnete „Deppendoktor“ Professor Sigmund Freud (ebenfalls Matthias Hecht). Als dieser einmal seine geliebten Havanna-Import-Zigarren in der Trafik vergisst, trägt Franz sie ihm nach – und kommt so mit dem berühmten Mann ins Gespräch.

„Wenn der Kopf nicht weiter weiß, soll man dem Herzen folgen“: Als Franz sich im Prater Hals über Kopf unglücklich in die schöne, um drei Jahre ältere und wesentlich reifere böhmische Variete-Nackttänzerin Anezka (ebenfalls Sina Ebell) verliebt, sucht er Rat bei dem lebenserfahrenen Psychoanalytiker, der mit Gesprächen auf gemeinsamen Spaziergängen so etwas wie sein väterlicher Freund geworden ist. Der aber belässt es mit Küchenweisheiten dieser Art: „Mit Zigarren ist es wie mit den Frauen. Wenn Du zu fest an ihnen ziehst, verweigern sie den Genuss.“

Endstation Hotel Metropol

Zu Beginn des Jahres 1938 haben Judenwitze in den Nachtclubs wie der „Grotte“ die Hitler-Parodien abgelöst. Der von der Liebe geplagte und von Anezka als „Burschi“ verspottete Heranwachsende wird schlagartig politisiert, als er mitansehen muss, wie aufrechte Bürger wie der Nachbar Roßhuber und seine Gattin (Matthias Hecht und Sina Ebell) Andersdenkende denunzieren: Otto Trsnjek wird unter dem Vorwand der Verbreitung unzüchtiger Druckerzeugnisse verhaftet und ins Hotel Metropol, dem Hauptquartier der Gestapo, verfrachtet. Von ihm bleibt bald nur noch ein Päckchen mit persönlichen Gegenständen übrig, nachdem er in der Haft einem Herzleiden erlegen sein soll.

Nun ist über Nacht Franz Huchel der Trafikant – und macht sich die demokratische Haltung Otto Trsnjeks zu eigen. Er bedient ganz selbstverständlich auch weiterhin die nun immer heftiger in der Öffentlichkeit verleumdeten, ja unter den Augen der Polizei körperlich angegriffenen Juden. Auch als „Hier kauft der Jud“ an der Scheibe der mit blutigen Tierkadavern verwüsteten Trafik geschrieben steht. Seinen prominentesten Kunden aber verliert er: Sigmund Freund emigriert nach England und erhält von Franz kostbare kubanische Zigarren als Abschiedsgeschenk. Als Franz eines Nachts vor dem Nazi-Hauptquartier die Hakenkreuzflagge durch die einbeinige Kriegsversehrten-Hose des ermordeten Otto Trsnjek ersetzt, gelingt ihm ein kleiner, trotziger Triumph…

Abwechslungsreiches Spiel

„Der Trafikant“, eine Coming-of-Age-Geschichte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Nazi-Machtübernahme Österreichs, ist 2018 von Nikolaus Leytner, der sich eng an das Handlungsgerüst und den bittersüßen Tonfall der Romanvorlage gehalten hat, mit Bruno Ganz kongenial verfilmt worden. Nun hat Hans Dreher für eine zweistündige „szenische Lesung“ an seinem Bochumer Prinz Regent Theater den Roman für die Bühne adaptiert. In den rasche Szenenwechsel ermöglichenden braunen Papp-Kulissen und diabolisch rot-schwarzen Kostümen Clara Eigeldingers entwickelt sich binnen zweier pausenloser Stunden ein munteres, abwechslungsreiches Spiel des engagierten, in zahlreiche Rollen und wechselweise auch in die des Erzählers schlüpfenden dreiköpfigen Ensembles.

Der Herner Patrick Praschma steuert Videos als animierte Postkarten aus den 1930er Jahren bei, etwa beim Brief-Dialog zwischen Mutter Margarete und Sohn Franz mit Ansichtskartenmotiven aus Wien und vom Attersee. Oder zum Prater-Besuch des Lehrlings und der Böhmin mit einem stilisierten Riesenrad. Auch die Trafik und die benachbarte Metzgerei erscheinen immer wieder auf der rückwärtigen Videowand.

„Der Trafikant“ ist am Prinz Regent Theater mehr als nur ein historisches Sittenbild aus dem vergangenen Jahrhundert mit dem O-Ton der letzten Ansprache Schuschniggs, der sich gegen die Fake News der Hitlerschen Propaganda wehrt. Der punktgenaue Soundtrack vom Doors-Hit „Riders On The Storm“ über Rudolf Sieczyńskis „Wien, Wien nur du allein“ in der schnulzigen Interpretation Peter Alexanders und dem melancholischen Titelsong aus der Operette „Wiener Blut“ von Johann Strauß Sohn bis hin zu Falcos Austro-Pop „Vienna Calling“ wird ‘mal unterstützend („Schwarzbraun ist die Haselnuss“), ‘mal ironisch (Theo Mackebens Gassenhauer „Die Nacht ist nicht allein zum schlafen da“), ‘mal konterkarierend (Walzertakt zum Schweineblut-Anschlag auf die Trafik: „Schleich dich, Judenfreund“) eingesetzt.

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Hans Drehers „Einrichtung“, die nicht zuletzt mit kleinen szenischen Kabinettstückchen weit über eine „Lesung“ hinausgeht, konnotiert jederzeit das leider wieder hochaktuelle Thema der allzu leichten Verführbarkeit totalitärer Ideen, ohne explizit auf Parallelen wie den Überfall Russlands auf die Ukraine hinzuweisen. Karten für die nächsten fünf Aufführungen an der Prinz-Regent-Straße 50-60 (neben der „Zeche“) im Bochumer Süden unter prinzregenttheater.de oder Tel. 0234 – 77 11 17.

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  • Mittwoch, 1. März 2023, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 21. März 2023, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 23. März 2023, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 28. März 2023, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 18. April 2023, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann