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Der Trafikant im WLT: In der Trafik von Otto Trsnjek (Mark Plewe, l.) lernt Franz Huchel (Chris Carsten Rohmann) zwischen den Zeilen zu lesen.

„Der Trafikant“ am Westfälisches Landestheater

Babylon Wien in Castrop-Rauxel

Weil seine mittellose Mutter Margarete Huchel (Thyra Uhde) keinen anderen Ausweg weiß, muss ihr 17-jähriger Sohn Franz (Chris Carsten Rohmann) nach Beendigung der Schule seine Heimat, das Salzkammergut, verlassen, um in Wien eine Lehre anzutreten. Es ist für den vaterlos aufgewachsenen Jungen nicht nur eine weite Zugreise von Nußdorf am Attersee in die österreichische Metropole, sondern eine Fahrt in eine andere, aufregende – und aufgeregte - Welt.

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Wir schreiben das Jahr 1937, die Götterdämmerung des austrofaschistischen Regimes von Bundeskanzler Kurt Schuschnigg ist nicht mehr aufzuhalten. Immer mehr Österreicher bekennen sich zu ihrem Landsmann Adolf Hitler, auch wenn sie das Hakenkreuz-Abzeichen der – noch – illegalen Nazi-Partei hinterm Revers verbergen wie der Fleischhauer Roßhuber. Es scheint nur eine Frage der Zeit, bis der „Führer“ den Anschluss seiner Heimat ans Deutsche Reich mit militärischen Mitteln befiehlt.

„Ein guter Trafikant verkauft Genuss und Lust – und manchmal Laster“: Franz kann beim kriegsversehrten Trafikanten Otto Trsnjek (Mark Plewe), im 2012 erschienenen Bestseller des Romanciers Robert Seethaler ein Jugendfreund seiner Mutter, in die Lehre gehen, wo er eine kleine Kammer im Laden für Tabakwaren, Zeitungen und Ansichtskarten bezieht. Nach und nach lernt der zunächst noch sehr naive Junge die große Welt kennen - und wie sie sich im Kleinen widerspiegelt. Zu den Stammkunden gehört auch der 82-jährige, von seiner Krebserkrankung gekennzeichnete „Deppendoktor“ Professor Sigmund Freud (Vincent Bermel). Als dieser einmal seine geliebten Havanna-Import-Zigarren in der Trafik vergisst, trägt Franz sie ihm nach – und kommt so mit dem berühmten Mann ins Gespräch.

Der Trafikant im WLT: Tanz auf dem Vulkan: Mark Plewe, Luisa Chichosch und Thyra Uhde.

„Wenn der Kopf nicht weiter weiß, soll man dem Herzen folgen“: Als Franz sich im Prater Hals über Kopf unglücklich in die schöne, zwar nur um wenige Jahre ältere, aber wesentlich reifere böhmische Variete-Nackttänzerin Anezka (Luisa Cichosch) verliebt, sucht er Rat bei dem lebenserfahrenen Psychoanalytiker, der mit Gesprächen auf gemeinsamen Spaziergängen so etwas wie sein väterlicher Freund geworden ist. Der aber belässt es mit Küchenweisheiten dieser Art: „Mit Zigarren ist es wie mit den Frauen. Wenn Du zu fest an ihnen ziehst, verweigern sie den Genuss.“

Zu Beginn des Jahres 1938 haben Judenwitze in den Nachtclubs wie der „Grotte“ die Hitler-Parodien abgelöst. Der von der Liebe geplagte und von Anezka als „Burschi“ verspottete Heranwachsende wird schlagartig politisiert, als er mit ansehen muss, wie aufrechte Bürger wie der Nachbar Roßhuber Andersdenkende denunzieren: Otto Trsnjek wird unter dem Vorwand der Verbreitung unzüchtiger Druckerzeugnisse verhaftet. Von ihm bleibt bald nur noch ein Päckchen mit persönlichen Gegenständen übrig, nachdem er in der Haft einem Herzleiden erlegen sein soll.

Nun ist über Nacht Franz Huchel der Trafikant – und macht sich die demokratische Haltung Otto Trsnjeks zu eigen. Er bedient ganz selbstverständlich auch weiterhin die nun immer heftiger in der Öffentlichkeit verleumdeten, ja unter den Augen der Polizei körperlich angegriffenen Juden. Auch als „Hier kauft der Jud“ an der Scheibe der mit blutigen Tierkadavern verwüsteten Trafik geschrieben steht. Seinen prominentesten Kunden aber verliert er: Sigmund Freund emigriert nach England und erhält von Franz kostbare kubanische Zigarren als Abschiedsgeschenk. Als Franz eines Nachts vor dem Nazi-Hauptquartier die Hakenkreuzflagge durch die einbeinige Kriegsversehrten-Hose des ermordeten Otto Trsnjek ersetzt, gelingt ihm ein kleiner, trotziger Triumph…

„Der Trafikant“, eine Coming-of-Age-Geschichte vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund der Nazi-Machtübernahme Österreichs, ist 2018 von Nikolaus Leytner, der sich eng an das Handlungsgerüst und den bittersüßen Tonfall der Romanvorlage gehalten hat, mit Bruno Ganz kongenial verfilmt worden. Der Schauspieler, Schriftsteller und Drehbuchautor Robert Seethaler, 1966 in Wien geboren, hat seinen Roman selbst dramatisiert, nachdem er mit der im Januar 2016 herausgekommenen Fassung des Salzburger Landestheaters nicht einverstanden war, die knapp zweieinhalbstündige Uraufführung im Oktober 2016 an der Württembergischen Landesbühne Esslingen inszenierte Hans-Ulrich Becker.

Nun hat das Westfälische Landestheater Castrop-Rauxel beim Bochumer Regisseur Felix Sommer eine eigene, für einen neunzigminütigen Stream geeignete Fassung in Auftrag gegeben, da sich nicht absehen lässt, wann wieder vor Live-Publikum gespielt werden kann. Die „Brücken“-Produktion mit dem komplett erneuerten Kinder- und Jugendtheater-Ensemble des WLT wird sowohl für Oberstufen-Schüler (ab der 10. Klasse) als auch im Abendtheater für alle ab 15 Jahren gespielt – wenn das wieder möglich ist. Vorgesehene Termine in der kommenden Spielzeit etwa sind am 15. September 2021 das Ruhrfestspielhaus Recklinghausen sowie am 25. und 26. Oktober 2021 die Stadthalle Castrop-Rauxel.

In der wandlungsfähigen Zigarrenkisten-Bühne der Ausstatterin Rabea Stadthaus, die dem fünfköpfigen Ensemble Kostüme der ausgehenden 1930er Jahre verpasst hat, knistert es wie zu alten Zeiten des Röhren-Radios, wenn alle wechselweise in die Erzähler-Rolle schlüpfen. Beim postalischen Dialog zwischen Mutter Margarete und Sohn Franz wirft ein Overhead-Projektor Ansichtsarten-Bilder aus Wien und vom Attersee an die Wand, beim Prater-Besuch kommt ein Riesenrad-Modell zum Einsatz: viel Atmosphäre mit geringen Mitteln.

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Heutige Tageszeitungen wie „Kurier“ und der lachsfarbene „Standard“ ersetzen Freuds Lieblingslektüre „Neue Freie Presse“ und sorgen für die zeitliche Anbindung an unsere Gegenwart, auf die sonst klugerweise verzichtet wird. Und dennoch ist „Der Trafikant“ am WLT mehr als nur ein historisches Sittenbild aus dem vergangenen Jahrhundert: Gerade die junge Besetzung weist das Publikum jeden Alters auf die allzu leichte Verführbarkeit totalitärer Ideen gegenüber hin. Regisseur Felix Sommer hat überdies ein wenig „Babylon Wien“ inszeniert, schwungvoll mit Musik und Tanz der Dreißiger. Dass bei der Notwendigkeit starker Kürzungen beim Figurenarsenal und seinem politischen Hintergrund einiges auf der Strecke bleibt, ist nicht zu ändern.

| Quelle: Pitt Herrmann