
Theater-Film aus der Bochumer WeltHütte
'Viel gut essen'
Sibylle Berg, 1962 in Weimar geborene und seit vielen Jahren in Zürich lebende Kolumnistin, Romanautorin und Dramatikerin, feierte am Schauspielhaus Bochum zur Jahrtausendwende ihre ersten großen Erfolge mit drei Uraufführungen, die rasch Kultstatus erlangten: In der Dystopie „Helges Leben“ (2000), einer saukomischen Zivilisations- und Medienkritik mit Markus Kiepe, Lena Schwarz und Erika Stucky, sind die Menschen ausgestorben und Tiere beherrschen den Blauen Planeten. In „Schau, da geht die Sonne unter“ (2003) lässt ein Vierzigjähriger kurz vor seinem Unfalltod noch einmal sein Leben Revue passieren - und das gleich in zwei Versionen. An der Seite von Michael Mertens und Mathias Brandt überzeugte die nun wieder an die „Kö“ zurückgekehrte Jele Brückner. Schließlich „Das wird schon“ (2004), eine abgrundtief-böse Satire auf den Geschlechterkampf mit Johanna Gastdorf, Angelika Richter und Felix Vörtler.
Nun, zum Auftakt der neuen Spielstätte „WeltHütte“ im oberen Foyer des Schauspielhauses, „Viel gut essen“, nicht wirklich uraufgeführt am 18. Oktober 2014 am Schauspiel Köln. Denn zu Beginn der Probenphase hatte die Dramatikerin das Manuskript noch nicht geliefert, sodass in der Halle Kalk eine zweigeteilte, durch eine hohe Mauer getrennte Bühne entstand – für zwei Stücke in paralleler Aufführung. Das Publikum musste sich für eine Seite entscheiden: entweder für das Ensemblespiel eines halben Dutzend Schauspieler, die einen gut situierten, beruflich erfolgreichen Mann mittleren Alters verkörpern, der kaum gelogen hat, nie fremdgegangen ist, sondern alles, was von ihm verlangte, gern erledigt hat. Oder für das Solo des sehr jungen, adretten und sportlichen Yuri Englert als „verdammt normaler Bürger“, der „nie ein Vorurteil gehabt“ hat – aber „Augen im Kopf“. Seine Mutter ist mit einem offenbar weitaus Jüngeren nach Eritrea abgehauen, auch seine Gattin hat ihn verlassen, aus der Wohnung soll er für den Neubau eines Asylantenheims herausgeklagt werden und in der Firma hat man ihm eine Jüngere vor die Nase gesetzt – auch noch mit Migrationshintergrund.
„Man(n) muss die Frage stellen dürfen, ob Schwule und Lesben überhaupt Öffnungen haben, die diese Bezeichnungen verdienen. Und ob sie das Recht haben, ihre Perversionen an unsere Kinder weiterzugeben“: In der kaum einstündigen Bochumer Neuinszenierung lässt Anna Stiepani, zuletzt „Robinson“ im Fiege-Brauereihof, einen alten weißen Mann über den Zustand der Welt unter besonderer Berücksichtigung seiner eigenen beruflichen und familiären Situation räsonieren. Männer haben es schwer, niemals leicht, zumal wenn sie von „ihren“ Frauen (Mutter und Gattin) verlassen worden sind. Die mehrfache Regieassistentin des Intendanten Johan Simons findet zu Sibylle Bergs Stück einen neuen Zugang, indem sie Bernd Rademacher nicht mit den Bergschen Stammtisch-Sprüchen beginnen lässt, sondern – in einer effektvoll mit Mozartscher Opernmusik unterlegten Kamerafahrt durch das imposante Bochumer Theaterschiff - mit Joseph Roth (1934): Der Antichrist ist gekommen, aber nicht mit Gestank von Pech und Schwefel, sondern ganz ohne Hinkefuß im Gewand des kleinen Bürgers.

„Ich kann von mir behaupten, alles richtig gemacht zu haben“: Der namenlose Protagonist, gefeuerter IT-Experte in einer auf Arbeitsrecht spezialisierten Kanzlei, gibt vor, in seiner als „erweiterter Körper“ empfundenen Wohnung ein Menü aus Holundersüppchen, Veilchen-Soufflé und Lamm zuzubereiten für seine Familie, welche ihn in Wirklichkeit längst verlassen hat. Was, wie er sich selbst eingesteht, auch an seinem emotionalen Defizit liegt, seiner Frau Claudia nicht seine Liebe zu ihr gestehen zu können. Und daran, dass ihm sein Sohn Thorben – als Klassik-Fan – stets wesensfremd gewesen ist. In permanentem Selbstgespräch klagt er über Gott und die Welt, reflektiert über Homosexualität und die besondere Höflichkeit Behinderten gegenüber. Stellt etwa die technische Entwicklung selbstfahrender Autos, die dem Menschen den Fahrspaß rauben, in Opposition zu authentischen Erlebnissen seiner „phantastischen Kindheit im Grünen“. Um dann doch deutlicher zu werden in Sachen Asylantenstrom und verschleierter Frauen auf den Straßen seines Wohnviertels: „Ich bin nicht lebensmüde, ich bin weltmüde. Wir sind das Volk. Wir wollen eine Welt, die wir verstehen.“
Weil eine Live-Aufführung vor Publikum zum ursprünglich geplanten Premierendatum 2. Mai 2021 nicht möglich war, wurde das Wuppertaler Siegersbusch-Team mit einer filmischen Umsetzung beauftragt. Zusammen mit Produktionsleiter Rene Jenckens ist Anna Stiepani ein großer Wurf gelungen: Bernd Rademacher verkörpert durch die akustischen (Voiceover: mehr als die Hälfte des Textes wird eingesprochen) und optischen („Ich habe noch nie mit mir selbst Theater gespielt“) Möglichkeiten des Films eine gespaltene Persönlichkeit, der sich in der Hütte mit Mehl-Slapstick und Luftgitarre zu „The Final Countdown“-Klängen darstellerisch in Szene setzt und zugleich draußen vor der Hütte mit dem Rücken zur Kamera sitzend sich selbst kommentierend, kritisierend und korrigierend zuschaut. Aktuelle Bezüge zur Pegida-Bewegung („Sie haben mir ins Gesicht gefilmt“) und zum Sturm aufs Washingtoner Capitol runden das Bild eines Mannes ab, der sich in unserer sich stets verändernden Welt nicht mehr zurechtfindet. Er fühlt sich einsam und verloren, was ihn empfänglich macht für populistische Verführer.
„Viel gut essen“ kann bis einschließlich 5. Juni 2021 als Theater on demand über die Homepage des Schauspielhauses Bochum gestreamt werden.