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Tschechows Iwanow: Gina Haller und Jens Harzer.

Triumph für Johan Simons und Jens Harzer

Tschechows Iwanow in Bochum

Wie verloren hockt ein fahriger, seine Extremitäten immer wieder zurechtrückender Jens Harzer vorn auf einem Stuhl. Dieser Nikolaj Alexejewitsch Iwanow weiß nicht wohin mit seinen Armen und Beinen. Nach dem Studium in Moskau ist er mit großen Ambitionen auf Verbesserungen in der Landwirtschaft zum ständigen Mitglied des Amtes für Bauernangelegenheiten avanciert. Erst dreißig Jahre alt, zählt er sich schon zu den „überflüssigen Menschen“, seine Seele zittert „aus Furcht vor dem morgigen Tag.“ Iwanows bereits grau werdendes, bis zur Schulter reichendes Haar klebt an seinem Kopf, aus dem müde Augen blinzeln. In ein Buch versunken wird er kaum gewahr, dass er von seinem Gutsverwalter Borkin (Thomas Dannemann als Gast, der hier demnächst „Die vereinigten Staaten von Amerika gegen Herbert Nolan“ inszeniert) mit dem Gewehr bedroht wird. Halb im Scherz, halb im Ernst: Iwanow ist pleite, kann die längst fällige Pacht nicht aufbringen.

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Tschechows Iwanow: Martin Horn, Marina Frenk und Thomas Dannemann.

Zehn Schritte entfernt im von Ästen und Baumstämmen flankierten filigranen Goldrahmen des Bühnenbildners Johannes Schütz, eine Hommage an Peter Brook („The Prisoner“), liegt Anna Petrowna (stumm Leidende aus reiner Liebe: Jele Brückner) auf ihrer ebenerdigen Bettstatt, mit der Iwanow seit fünf Jahren verheiratet ist. Die Jüdin, die seinetwegen zur „rechtgläubigen Kirche“ übertrat und deswegen von ihren Eltern verflucht und enterbt wurde, ist unter größten Schmerzen, welche sie sorgsam zu verbergen weiß, unheilbar an Tuberkulose erkrankt. Dennoch verbringt ihr Gatte, beim Bruno-Ganz-Nachfolger als Träger des Iffland-Rings eher weltfremder Intellektueller unserer Tage denn handfester Bewirtschafter von eintausend Hektar Land, die Abende schon geraume Zeit nicht mehr daheim an ihrer Seite und der des im Haus lebenden und sich dort tödlich langweilenden Onkels Graf Schabelskij („Nach Moskau!“: Martin Horn als im Grunde heiterer Gemütsmensch).

Der inzwischen illusionslose Idealist gar nicht so ferner Tage sucht die Gesellschaft seines Gläubigers, des reichen Gutsbesitzers Lebedew (der subversive Bernd Rademacher nur scheinbar ein Pantoffelheld), und seiner in geschäftlichen Dingen arg zugeknöpften Gattin Zinaida Sawischna (eine dünkelhafte Veronika Nickl als unbedarftes Plappermaul). Es geht dort, eine nackte Stuhl-Reihe an der Rampe ist ein kongeniales Bild der nichtsnutzigen Gesellschaftslöwen, bei den „drei alten Hasen“ Lebedew, Schabelskij und Borkin, ergänzt um den spielsüchtigen Steuereinnehmer Kosych (Konstantin Bühler) und die junge, elegante Witwe Babakina (Bochum-Rückkehrerin Marina Frenk als „kandiertes Äpfelchen“), lustig zu. Wenn es auf den Brettern zu gemütlich wird, dem Affen allzu reichlich Zucker gebend durch eine völlig überflüssige Slapstick-Einlage Iwanows, sorgt dessen ironischer Blick auf seine Umgebung für schlagartige Korrektur: Jens Harzer genügen hierfür minimalste mimische Regungen.

Naturgemäß verkehrt der vor allem an sich selbst Verzweifelte bei den Lebedews in der Hoffnung auf Zahlungsaufschub. Vor allem aber in der nicht unberechtigten Erwartung, aus der Zuneigung ihrer vor Lebensfreude nur so sprühenden Tochter Sascha (umwerfende Bühnenpräsenz: Gina Haller) neue Kraft zu schöpfen. Die es sich als zunächst ganz selbstlos Liebende zur Aufgabe gemacht hat, den zutiefst unglücklichen Zerrissenen zu kurieren, der sich nach menschlicher Wärme ebenso sehnt wie nach gesellschaftlicher Anerkennung. Hält man Iwanow im Landkreis doch einen Betrüger und schamlosen Mitgiftjäger, befeuert vom frisch examinierten Landarzt Lwow (ein sehr junger Marius Huth). Der als Gutmensch, welcher allein die Wahrheit für sich gepachtet hat, den moralisch naturgemäß auf der richtigen Seite stehenden Ankläger gibt und dabei den heimlicher Verehrer der „klugen, herrlichen, fast schon heiligen Frau“ Anna Petrowna nicht wirklich verbergen kann.

Als Sascha sich auf der Feier zu ihrem 20. Geburtstag im wahren Wortsinn ermannt, Iwanow ihre Liebe zu gestehen, nachdem sie diesen kopfüber auf die Bühne getragen hat, läuten am Ende des zweiten Aktes die Glocken des siebten Himmels. Für Anna als Zeugin dieses eruptiven Gefühlsausbruchs ihres sonst so kraftlosen Mannes an der Seite der attraktiven, bald steinreichen Erbin ist es der letzte Nagel zu ihrem Sarg. Zu Beginn des vierten Aktes erklingen nicht weniger als vierzig Schläge: die ganz im Bühnenhintergrund aufgehängte Totenglocke geht nahtlos in die Hochzeitsglocke über, die in Schwarz gewandete Gesellschaft, welche gerade noch Anna Petrownas Erlösung betrauert hat, feiert nun Saschas Hochzeit mit Iwanow nach dessen einjähriger Witwerschaft. Doch die Braut in Weiß muss sich erneut sowohl den nun ausufernden Selbstzweifeln Iwanows als auch den Provokationen des „ehrlichen Menschen“ Lwow erwehren, der den Bräutigam als „Verbrecher“ bezeichnet und diesen zum Duell fordert. „Es ging so lange abwärts, jetzt ist Schluss“: Iwanow sorgt nach gut vier Stunden für ein unerwartetes Knalleffekt-Finale...

Obwohl es der selbst an Tuberkulose erkrankte Anton Tschechow so vorgesehen hat in seinem ersten großen Bühnenwerk „Iwanow“. Freilich noch nicht bei der Uraufführung am 19. November 1887 am Russischen Theater Korsch in Saratow, sondern erst später in drei weiteren Fassungen mit teilweise erheblichen Änderungen im zweiten und vierten Akt, davon 1888 zwei für das St. Petersburger Alexander-Theater (Premiere am 31. Januar 1889) und die letzte, bis heute für die Werkausgabe gültige, für die Zeitschrift „Severnyi vestnik“. Am Schauspielhaus Bochum, wo die grandiose Inszenierung des Intendanten Johan Simons am 18. Januar 2020 Premiere feierte, wird eine neue Übersetzung der früheren Bochumer Schauspielerin (Ende der 1980er Jahre) und heutigen international preisgekrönten Filmemacherin Angela Schanelec („Marseille“, „Orly“, „Ich war zuhause, aber“) gespielt, die sich eng an Tschechows Handlungsgerüst und Figurenkonstellation hält, die Tragikomödie aber sprachlich in unsere Gegenwart rückt.

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Die um einige Nebenrollen wie Dudkin, Jegoruschka, Pjotr und die in Matthias Hartmanns Bochumer „Iwanow“-Inszenierung von 2004 mit Michael Maertens in der Titelrolle von Tana Schanzara verkörperte Alte Awdotja Nasarowna erleichterte Neuinszenierung Simons ist am Premierenabend völlig unverständlicherweise nicht einhellig bejubelt worden. Was den aus einem großartigen Ensemble herausragenden Jens Harzer (auch in „Penthesilea“ an der „Kö“ zu erleben) dazu bewog, Johan Simons bei der Hand zu nehmen und sich mit ihm demonstrativ dem Publikum zu stellen. Fürs Berliner Theatertreffen kommt „Iwanow“ leider zu spät, wird aber durch „Hamlet“ kompensiert: Die ebenso packend-zeitlose Shakespeare-Interpretation des Bochumer Intendanten ist gerade mit dem Berliner Theaterpreis ausgezeichnet worden, bislang stets Garant für eine Einladung zum Spitzentreffen des deutschsprachigen Theaters.

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  • Mittwoch, 22. Januar 2020, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann