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Hoffnungslose Liebe: Carmen (Lina Hoffmann) und Don José (Khanyiso Gwenxane).

Lina Hoffmann in Gelsenkirchen

Politisch korrekte „Carmen“

Unter der sengenden Sonne Sevillas spielt Georges Bizets Geschichte der nun am Gelsenkirchener Kennedyplatz unter „Roma“ firmierenden Zigarrendreherin Carmen, nachdem das andere „Z-Wort“ der Political Correctness zum Opfer gefallen ist wie gerade das „Z“-Zeichen auf dem Zwickel-Bier der Bochumer Fiege-Brauerei infolge des russischen Krieges gegen die Ukraine.

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Die heute weltweit meistgespielte Oper schockte das Publikum bei der Pariser Uraufführung am 3. März 1875 noch, weil im Zentrum der Handlung nach einer Novelle Prosper Mérimées eine vermeintlich amoralische Frau mit unbedingtem Willen zur Freiheit steht. Die mit ihrer außergewöhnlich sinnlichen Ausstrahlung dem braven Soldaten Don José nicht nur die Augen verdreht, sondern ihn zum Kriminellen werden lässt – um sich am bitteren Ende doch für einen anderen Liebhaber zu entscheiden, den feurigen Torero Escamillo.

Im Camp der Schmuggler v.l. Khanyiso Gwenxane, Adam Temple-Smith, Tobias Glagau, Lina Hoffmann, Dongmin Lee und Anke Sieloff.

Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein ist die Titelfigur als männerverderbende Femme fatale in ein exotisch-folkloristisches Ambiente gestellt worden. Damit war in Gelsenkirchen allerdings schon 1993 Schluss, als Neil Varon und Regisseur Wolf Widder der Figur des seinerzeit von Olafur Bjarnason verkörperten Don José stärkere Beachtung schenkten in einer Fassung mit gesprochenen Dialogen, die Walter Felsenstein zusammen mit Fritz Oeser für „seine“ Komische Oper in Ost-Berlin erstellt hatte. Und Ausstatter Erwin W. Zimmer einen Jeep der Guardia Civil aus den 1930er Jahren der Franco-Diktatur auf die Bühne des Großen Hauses stellte.

Die bei der einhellig umjubelten MiR-Neuproduktion von Cosima Sophia Osthoff und Regisseur Immo Karaman im April 2007 von einem amerikanischen Straßenkreuzer beherrscht wurde, auf dessen Kühlerhaube sich keine Geringere als Anna Agathonos in der Titelpartie räkelte. Der im Prolog mit ohrenbetäubendem Krachen zu Bruch gehende Fetisch Auto stand im Mittelpunkt einer Geschichte über die Sehnsüchte der Männer und ihre Projektionen auf die Frau anlog zur mehrfach von Daniel Drewes aus dem Off zitierten Mérimée-Vorlage, in welcher der bereits zum Tode verurteilte Bandit und einstige Sergeant Don José als Ich-Erzähler die Geschichte aus seiner Perspektive darstellt und interpretiert – mit großer Nüchternheit und ganz ohne Selbstmitleid.

In der aktuellen Neufassung von Rasmus Baumann und Regisseurin Rahel Thiel ist der Amischlitten einem arg ramponierten französischen Transporter gewichen, das Zuhälter- hat sich in ein Schmuggler-Milieu und der Highway-Coffeeshop wieder in Lillas Pastias Schänke rückverwandelt. Vor allem aber verkörpert die darstellerisch wie sängerisch überragende Mezzosopranistin Lina Hoffmann einen neuen, für manche ältere Opernfreunde durchaus gewöhnungsbedürftigen Carmen-Typ: eine hochgewachsene, die Männer auch körperlich überragende selbstbewusste Frau – frei „von der romantisierten Vorstellung konstruierter Minderheiten“, wie MiR-Dramaturgin Anna Chernomordik im Programmheft schreibt.

Die den Leutnant Don José, verkörpert vom mit Ovationen gefeierten jungen Tenor Khanyiso Gwenxane, nicht durch äußere Attribute, sondern durch ihre Unabhängigkeit fasziniert und ihn dazu bringt, seine bürgerliche Sicherheit aufzugeben zugunsten eines unsteten Lebens am kriminellen Rand der Gesellschaft. Als Carmen von ihrer Freiheit Gebrauch macht, sich auch mit anderen Männern wie dem allseits umschwärmten Stierkämpfer Escamillo (Piotr Prochera) einzulassen, gibt der krankhaft eifersüchtige, von Beginn an von den übergriffigen Kameraden als Außenseiter gemobbte José ihr die alleinige Schuld an seinem verpfuschten Leben. Am Ende sieht er nur in ihrem Tod einen Ausweg…

Dieter Richters Bühne ist ein gewaltig dimensionierter Rundbau, durch dessen schmale Öffnung sich im ersten Akt die Fabrikarbeiterinnen zwängen. Um 180 Grad gedreht mutiert er im vierten Akt zur blutigen Kampfarena zwischen Don José und Carmen, der Stier hängt bereits tot vom Schnürboden herab. Renée Listerdal konterkariert Rahel Thiels Konzept, indem sie Micaëla (Sonderapplaus für das junge Opernstudio-Talent Heejin Kim) in ein enges Hausmütterchen-Kostüm einer Unschuld vom Lande zwängt. Während Lina Hoffmann, die im fulminanten zweiten Akt lange vor dem Kneipenspiegel posiert, im hochgeschlitzten langen Rock herumstolziert.

Musikalisch lässt diese Umkehrung traditioneller Rollenbilder nichts zu wünschen übrig, woran neben Piotr Prochera und – naturgemäß - dem Chor auch Dongmin Lee und Anke Sieloff als Carmens quirlige Freundinnen ihren Anteil haben. Bei der Premiere nahm GMD Rasmus Baumann den hochverdienten Jubel des Publikums am Pult entgegen, in der von mir besuchten Repertoireaufführung sein nicht minder zupackender Schüler Peter Kattermann.

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Die weiteren Aufführungen: Am Sonntag, 24. April 2022, am Sonntag, 15. Mai 2022, am Montag, 6. Juni 2022 sowie am Sonntag, 26. Juni 2022, jeweils um 18 Uhr. Theater unter musiktheater-im-revier-de oder an der Kasse unter Tel 0209 – 40 97 200.

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  • Sonntag, 24. April 2022, um 18 Uhr
  • Sonntag, 15. Mai 2022, um 18 Uhr
  • Montag, 6. Juni 2022, um 18 Uhr
  • Sonntag, 26. Juni 2022, um 18 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann