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Susana Abdal Majid und Johan Leysen.

Milo Raus multimediales Dogma-Theater in Bochum

Orest in Mossul

Mord, Blut, Rache - endlos. Agamemnon (Johan Leysen), der Feldherr der Griechen im Kampf gegen Troja, hat seine Tochter Iphigenie (Susana Abdul Majid, im Video die irakische Schauspielstudentin Baara Ali) geopfert, damit die Götter für Wind in den Segeln seiner Flotte sorgen. Seine Gattin Klytaimnestra (Elsie de Brauw) hat den siegreichen Anführer nach seiner triumphalen Rückkehr aus Rache getötet – und ist wiederum vom eigenen Sohn Orest (Duraid Abbas Ghaieb) ermordet worden. Vor fünftausend Jahren bei Aischylos will die Göttin Athene, die über Orest zu Gericht sitzt, diese Abfolge von Gewalttat und Rache durchbrechen – mittels einer demokratischen Rechtsprechung. So mutieren die Rachegöttinnen Erinnyen zu verständigen, sanftmütigen Eumeniden... Die Atridentragödie Orest gilt als der Gründungsmythos der westlichen Zivilisation. Der Schweizer Regisseur Milo Rau, Träger des Bochumer Peter-Weiss-Preises 2017 und des Europäischen Theaterpreises 2018, verbindet in seinem am 17. April 2019 am Niederländischen Theater (NT) Gent uraufgeführten multimedialen Stück Orest in Mossul die antike Vorlage mit den aktuellen politischen Konflikten unter besonderer Berücksichtigung des inzwischen weitgehend untergegangenen Islamischen Staates in Syrien und dem Irak.

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„Bei Aischylos“, so Milo Rau, „kann nur die Göttin Athene die Gewalt stoppen: Sie bietet den Rachegöttinnen einen Platz in der Gesellschaft an. Einschluss statt Ausschluss. Umarmung statt Hass. Aber was tun wir mit Dschihadisten, wenn der IS überwunden ist und sie in ihre irakischen Dörfer (oder nach Europa) zurückkehren? Es gibt Kämpfer in aller Welt, die aus Kriegen heimkehren. Wie können sie wieder ‚zivilisiert‘ werden?“ Die Koproduktion mit dem Schauspielhaus Bochum feierte am 17. Mai 2019 umjubelte Premiere in den Kammerspielen, wo sie en suite nur noch bis zum 30. Mai 2019 gezeigt werden kann, bevor sie Anfang Juni auf Einladung der Wiener Festwochen ins Museumsquartier der Donaumetropole weiterzieht. Milo Rau hat mit einem internationalen Ensemble, dem mit der Niederländerin Elsie de Brauw und dem in Estland geborenen Risto Kübar auch zwei Neu-Bochumer angehören, eine in unsere heutige kriegerische Zeit transponierte Orestie inszeniert, die in niederländischer und englischer Sprache mit deutschen Übertiteln die Frage verneint, ob es möglich ist, die anscheinend nicht endende Kette der Gewalt zu durchbrechen.

Als der Regisseur, seit dieser Saison auch NT-Intendant, 2016 die völlig zerstörte nordirakische Stadt Sindschar besuchte, entstand die Idee zu diesem ungewöhnlichen Projekt, das in einer ersten Phase im kurdischen Mossul, dem biblischen Ninive, in einer Peschmerga-Kaserne entwickelt wurde – mit europäischen Schauspielern und irakischen Studenten (als Chor), Musikern und Einwohnern wie dem Fotografen Khalid Rawi (als Wächter). Die Videoaufzeichnungen dieser Proben, welche am 27. März 2019 in eine Voraufführung im Cultural Cafe Mosul mündeten, sind heute konstituierender Bestandteil der gut einhundertminütigen Inszenierung, da die Iraker kein Einreisevisum in den Schengen-Raum bekamen.

Zu ihnen gehört auch Khitam Idris Gamil in der Rolle der Athene, deren Mann von Islamisten getötet wurde. Die Schullehrerin, Direktorin eines Erwachsenenbildungsinstituts und Aktivistin beim Roten Kreuz, die derzeit ihren vierten Universitätsabschluss macht, bezeichnet ihren ermordeten Gatten als Märtyrer und verwahrt sich gegen einen – freilich auch recht intensiven - Freundschaftskuss zwischen Orest und Pylades (Risto Kübar): „Ich habe gesehen“, wird sie im Bochumer Programmheft zitiert, „wie sich zwei Männer küssen, und ich muss sagen, dass das haram ist. Dass das nicht Teil unserer Kultur, unserer Tradition ist. Das ist hier nicht erlaubt!“ Die im übrigen auch von den entsetzten Studenten beanstandete Szene bezieht sich in Milo Raus Konzept auf die Ermordung von Homosexuellen und Ehebrecherinnen, die vom Dach eines inzwischen zerstörten Kaufhauses, wo sie Kameramann Moritz von Dungern auch drehte, in den Tod gestürzt wurden. Selbst bei einer gebildeten, intellektuellen Frau, deren fünf Töchter sämtlich studieren, stößt der westliche Freiheitsbegriff an Grenzen – ob unfreiwillig oder nicht wohl die wichtigste Erkenntnis eines sehr atmosphärischen, mehr als jede TV-Dokumentation fesselnden, aber nur sehr wenig theatralischen Abends. In dem die einzige größere Ensembleszene, das gemeinsame Mahl von Klytaimnestra und ihrem Beschützer Aigistos (Bert Luppes), Agamemnon und seiner Kriegsbeute Kassandra (auch Susana Abdul Majid), wie bei Frank Castorf in ein Hinterzimmer verlegt und mittels Live-Kamera auf die Videowand in der Bühnenmitte projiziert wird.

„Die Stille ist ohrenbetäubend“: Nicht zum ersten Mal setzt Milo Rau auf die emotionale Wirkung von Gewaltszenen unmittelbar an der Rampe, hier die Erdrosselung Iphigenies durch ihren Vater. Und auf Brechtsche Verfremdung: Der in Belgien geborene Agamemnon-Darsteller Johan Leysen erzählt zu Beginn in seiner Muttersprache, dass er bereits als Schauspielschüler den Wächter in der Orestie gespielt hat und daheim, wie auch in jedem deutschen Bildungsbürgerhaushalt, ein Exemplar von C. W. Cerams Archäologieroman Götter, Gräben und Gelehrte im Bücherschrank stand. Das multimediale Doku-Theater, permanent unterlegt von Roland Orzabals Ohrwurm Mad World, zeigt Bilder aus dem zerstörten Mossul, die an die deutschen Städte im Mai 1945 erinnern. Suleik Salim Al-Khabbaz, der Musiker, kommt zu Wort, ein Tontechniker mehrfach ins Bild: Orest in Mossul ist in erster Linie ein Werkstattbericht, das Making of eines Projektes, das auf Milo Raus Genter Manifest von 2018 beruht.

„Es geht nicht mehr nur darum“, heißt es im ersten von insgesamt zehn Forderungen an das Stadttheater der Zukunft, „die Welt darzustellen. Es geht darum, sie zu verändern.“ Und darum, eine NT-Produktion pro Spielzeit in einem von Kriegen oder anderen Katastrophen heimgesuchten Land einzustudieren. In der Intendanz Johan Simons werden wir sicherlich mehr Werke nach diesem Dogma-Manifest für die Bühne in Bochum zu sehen bekommen. Eine weitere selbstauferlegte Maßgabe lautet: Keine wörtliche Adaption von Klassikern. Bei Orest in Mossul hält sich der Erkenntnisgewinn sehr in Grenzen.

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  • Mittwoch, 22. Mai 2019, um 18:45 Uhr
  • Donnerstag, 23. Mai 2019, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 24. Mai 2019, um 18:45 Uhr
Montag, 20. Mai 2019 | Autor: Pitt Herrmann