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v.l. Daniel Beisbart, Renate Stahl, Lino Reifferscheidt, Roswitha Kons.

Marat / Sade in Bochum

Es dauert eine Weile, bis gut ein Dutzend Akteure vor den noch geschlossenen Vorhang der Bochumer Kammerspiele treten. Denn neben dem Ensemblemitglied Lukas von der Lühe, den beiden regieführenden Monster-Truck-Performern Sahar Rahimi und Manuel Gerst, der Berliner Bondage-Tänzerin Dasniya Sommer und der Hamburger Drag Queen Renate Stahl, die eigentlich Rene heißt, mühen sich geistig oder körperlich Behinderte auf die Bretter. Welche für sie freilich kein Neuland bedeuten: Es sind Mitglieder einer Theatergruppe der Bochumer Lebenshilfe.

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Marat / Sade ist angekündigt, ein am 29. April 1964 am Schiller-Theater Berlin uraufgeführtes Lehrstück über die Französische Revolution, das den vollen Titel Die Verfolgung und Ermordung Jean Paul Marats dargestellt durch die Schauspielertruppe des Hospizes zu Charenton unter Anleitung des Herrn de Sade trägt. Ersterer, von der Konterrevolutionärin Charlotte Corday im Bad ermordet, tritt als Wortführer des vierten Standes für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ein. Und stilisiert sich nicht nur seiner Gefährtin Simonne gegenüber selbst zur Ikone, weil die Zeitläufte über ihn als Revolutionär längst hinweggegangen sind.

v.l. Roswitha Kons, Dasniya Sommer, Rolf Fey (vorne), Nicole Schnippenkötter, Lukas von der Lühe, Andreas Stebner, Jörg Eiben, Lino Reifferscheidt .

Letzterer, ein sexualpathologischer Individualist adliger Abstammung, widerspricht vehement der Notwendigkeit einer sozial oder national begründeten Kollektivierung. Und weiß dabei die Geschichte auf seiner Seite. Marquis de Sades Philosophie im Boudoir, in einer fulminanten Choreographie von Herbert Fritsch Ende 2018 am Schauspielhaus Bochum herausgekommen, sorgte für einigen Wirbel an der Königsallee. Insofern schließt sich mit Peter Weiss dramaturgisch ein Kreis. Was übrigens auch für die ungewöhnliche Art der Inszenierung gilt: für das Kollektiv Monster Truck, dem neben den beiden Genannten noch Ina Vera angehört, ist der Marat/Sade-Klassiker heute nicht mehr als trockenes Thesen-Theater vorstellbar.

Die Regisseure Sahar Rahimi und Manuel Gerst, auch für die Ausstattung verantwortlich, treten in einem Prolog als Napoleon und Jeanne d’Arc auf. Er mit gewaltigem Dreispitz, aber unten ohne, sie, dem berühmten Gemälde von Eugene Delacroix nachempfunden, die Tricolore schwingend oben ohne. Auch Lukas von der Lühe und Dasniya Sommer haben sich hälftig entblößt. Die Profis sind so gleichermaßen den naturgemäß voyeuristischen Blicken des Publikums ausgesetzt wie ihre Mitperformer, die im etwas zu trocken geratenen ersten Teil namentlich, mit ihren beruflichen Tätigkeiten und mit der Art ihrer Behinderung vorgestellt werden. Und im äußerst lebendigen, auch berührenden zweiten Teil eine Menge Spaß über die Rampe transportieren: Jeder bringt sich nach seinen Möglichkeiten ein.

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Das Stück selbst ist nur Folie, der Inhalt gerät zur Nebensache: Die Protagonisten, Rolf Fey als Marat in der Badewanne, Roswitha Kons, Sabine Schrader oder, im zweiten Akt als Napoleon, Daniel Beisbart, sprechen nicht selbst, sondern werden wie Puppen geführt. Der Text kommt technisch bis zur Unverständlichkeit verfremdet aus dem Off, die Ermordung Marats wird als Pantomine dargestellt. Erst im zweiten Teil des 75-minütigen Abends, der am 29. Juni 2019 umjubelte Premiere feierte, wird’s optisch wie akustisch lebendig. Zum T. Rex-Sound Children of the Revolution läuft die Pariser Nationalversammlung wie eine Kindergeburtstagsparty ab – mit einem aufblasbaren Riesenkrokodil, aus dessen Rachen endlos Schaum quillt. Der bald das aufblasbare Schwimmbecken in Flamingo-Gestalt füllt. Doch das grüne Monster mit den spitzen Zähnen ist nicht ohne: die Politiker, die sich auch ohne die Kappen der – im übrigen großartigen - Drag Queen zum Narren gemacht haben, erkennen nicht, dass Napoleon längst bereit steht, dem Spaß ein abruptes Ende zu bereiten. Diesmal frisst die Revolution nicht ihre Kinder, verwandeln sich diese doch in martialische, die Fäuste reckende Kämpfer unter schwarzen Sturmkappen. Eine düstere Mahnung!

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  • Donnerstag, 4. Juli 2019, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 6. Juli 2019, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 9. Juli 2019, um 19:30 Uhr
  • Mittwoch, 10. Juli 2019, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 11. Juli 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann