
Arktisches Railroad-Movie neu im Kino
Film-Tipp: Abteil Nr. 6
Nur wenige Menschen zieht es noch dazu im Winter ins eisige Murmansk am nördlichen Polarkreis. Die finnische Archäologiestudentin Laura (Seidi Haarla), die in Moskau studiert, aber ist fest entschlossen, die berühmten Felsenmalereien der Stadt zu besichtigen: Die Petroglyphen sind bleibende Zeichen aus der Vergangenheit. Laura, deren bisheriges Leben nur aus einer Reihe flüchtiger Momente besteht, hofft, dass allein der Anblick dieser 10.000 Jahre alten Zeitzeugen ihr zu einer gewissen Beständigkeit verhelfen kann.
Zumal die Romanze mit der Literatur-Professorin Irina (Dinara Drukarova) mit einer feucht-fröhlichen Party in den vier Wänden, in denen sie bisher zur Untermiete gewohnt hat, und literarisch-philosophischen Gesprächen aus Lauras Sicht grundlos-abrupt endet: Sie war bisher davon ausgegangen, die beschwerliche Bahnfahrt quer durch Sibirien an Irinas Seite zu unternehmen. Nun bricht die eher schüchterne Laura allein in eine ferne, fremde Welt auf, deren Sprache sie immerhin versteht und auch leidlich spricht. Im Hinterkopf den Satz eines nicht näher beschriebenen Mannes, den sie zu ihrer Lebensmaxime erkoren hat: „Um dich selbst zu kennen, musst du deine Vergangenheit kennen“.
Keine beschauliche Eisenbahnreise
Als ihr Natalia Nemova (Julia Aug), der Drachen von Zugbegleiterin, die Tür zum reservierten Zweierabteil öffnet, wird Laura von Alkoholdunst eingenebelt: Den Platz ihrer verflossenen Geliebten hat mit Ljoha (Yuri Borisov) ein so trinkfester wie lauter Bergarbeiter eingenommen, der an seinen Arbeitsplatz zurückkehrt. Eine beschauliche Eisenbahnreise wird das nicht mit einem Typen, der sich wie ein junger russischer Faschist gibt, in seiner Rücksichtslosigkeit offenbar keine Grenzen kennt und Laura, die sich sogleich in den Speisewagen flüchtet, auf Schritt und Tritt folgt.

Irgendwann ist der wodkaselige Kerl eingeschlafen. Als Frau allein unterwegs ist Laura Freiwild, was ihr später schmerzhaft selbst bei einem freundlich-fröhlichen Landsmann wie Saska (Tomi Alatalo), dem Gitarrenspieler, bewusst wird. Der sie bei einem längeren Zugstopp zu einer illegalen Schnapsbrennerei führt, wo er ihr die Kamera stiehlt – und die Eifersucht des schon nicht mehr ganz so ungehobelten Ljoha hervorruft. Die ungleichen Abteilnachbarn müssen lernen, auf engstem Raum miteinander auszukommen. Und dafür erst einmal die Eigenarten des Anderen akzeptieren.
Auto bleibt im Schnee stecken
Bei einem weiteren Abstecher zu seiner Pflegemutter (Lidia Kostina) lernt Laura den Familienmenschen Ljoha kennen – und schließlich sogar lieben. Weil im Winter die Autos im Schnee stecken bleiben, scheint das Ziel unerreichbar zu sein. Doch der junge Russe, inzwischen an seinem Arbeitsplatz, den Kohlegruben, angelangt, versucht alles, besorgt ein Auto und sogar ein Schiff. Um Laura, deren Wünsche in den Petroglyphen nicht wirklich in Erfüllung gegangen sind, zuletzt in ein Taxi nach St. Petersburg zu setzen…
Was für ein großartiger unspektakulärer Film in den unendlichen Weiten eines Landes, dessen selbstermächtigter neuer Zar das ukrainische Brudervolk überfallen hat, weshalb „Abteil Nr. 6“ vom Festival im litauischen Vilnius ausgeschlossen – und vom Multiplex-Betreiber Cinestar sogar kurzzeitig auf den Index gesetzt wurde, sodass die Berliner Premiere im Kino der Kulturbrauerei Prenzlauer Berg zu platzen drohte.
Dabei erzählt das gut einhundertminütige Railroad-Movie eine wunderbar leise Geschichte über die Möglichkeit von Verständigung, Freundschaft und Liebe über alle Kultur- und Klassenbarrieren hinweg. Mit zwei großartigen Theater- und Filmschauspielern, der 36-jährigen Finnin Seidi Haarla, die in St. Petersburg und Helsinki studiert hat, und dem 28-jährigen Moskauer Yuri Borisov, der 2021 in Cannes auch mit „Petrov’s Flu“ des regimekritischen Regisseurs Kirill Serebrennikov auf der Leinwand vertreten war.
Atmosphärische Reise
Zum Sound des 1986 von Desireless gesungenen französischen Chansons „Voyage, voyage“ nimmt der 1979 geborene finnische Regisseur Juho Kuosmanen das Kinopublikum mit auf diese sehr atmosphärische Reise durch ein winterliches Russland der späten 1990er Jahre, inspiriert durch den gleichnamigen, 2010 erschienenen Roman „Hytti nro 6“ von Rosa Liksom. Es handelt sich jedoch nicht um eine Literaturadaption: Das Jahrzehnt, in dem die Geschichte angesiedelt ist, wurde ebenso verändert wie die Route, der Name (ursprünglich Vadim) und das Alter des männlichen Protagonisten. Der Regisseur im Presseheft: „Ljoha war der Name eines verrückten Typen, den wir bei der Drehortsuche im Zug getroffen haben. Das passte also. Wir haben so viel geändert, dass die eigentliche Frage ist, was nicht geändert wurde“.
„Abteil Nr. 6“, am 10. Juli 2021 in Cannes uraufgeführt und mit dem „Grand Prix“ ausgezeichnet, feierte Corona-bedingt seine Deutschland-Premiere erst zur Eröffnung des Filmfestivals Cottbus am 2. November 2021 und ist nun am Donnerstag (31.3.2022) in die Kinos gekommen. Bei uns derzeit zu sehen im Düsseldorfer Bambi sowie im Essener Luna im Astra, ab 7. April 2022 auch im Dortmunder Sweetsixteen.