
Mika Kaurismäkis Corona-Kammerspiel
Eine Nacht in Helsinki
Winter in Finnland. Die Hauptstadt Helsinki ist noch im Morgennebel versunken. Wovon sich ein Jogger nicht aus der Ruhe bringen lässt. Das Handy klingelt, eine gewisse Viktoria ruft an. Als sich Juhani (Timo Torikka) daheim rasch umzieht, geht die Sonne auf. Der nur „Jussi“ genannte Sozialarbeiter eilt zum Bahnhof, wo um diese Zeit noch tote Hose herrscht. Was sich später freilich ändern wird: der „Tag der Arbeit“ wird am 1. Mai auch im kühlen Norden gefeiert. Wenn auch in Corona-Zeiten mit angezogener Handbremse.
In der Nacht hat es geschneit, aber in Helsinki sind nur matschige Reste übriggeblieben. Heikki (Pertti Sveholm) besteigt sein Auto. Im Radio ist die Mai-Ansprache der Ministerpräsidentin Sanna Mirella Maria zu hören. Die jüngsten Epidemie-Zahlen verheißen keine Lockdown-Änderungen. Heikki fährt in ein Gewerbegebiet und schließt eine Halle auf. An der Tür ein unscheinbarer Hinweis, dass coronabedingt die Bar Corona geschlossen hat.

Der Arzt Risto (Kari Heiskanen) hat einen schweren Arbeitstag in der Klinik hinter sich. Ein vitales, lustiges 14-jähriges Mädchen ist gestorben, worüber er nicht hinwegkommt. Zumal ihm seine Gattin am anderen Ende der Telefonleitung keine psychologische Hilfe ist. Erschöpft und voller Selbstzweifel kommt er an seinem Stammlokal vorbei und sieht durch die Scheibe der verschlossenen Tür, wie sein Freund Heikki mitten unter eingemotteten Billardtischen allein an einer sorgsam gedeckten Tafel unter Kerzenschein bei einem Glas Wein sitzt.
Der hat Verständnis für Ristos Wunsch nach Geselligkeit und lädt ihn, als privaten Gast, zum Wein ein. Heikki, den wegen des Lock-Downs in so großer finanzieller Not steckt, dass er ans Aufgeben denkt, und Risto trösten sich gegenseitig. Und es bleibt nicht bei einer Flasche Wein, als sich das – besonders für Regisseur Mika Kausrismäki – ungewöhnlich gesprächige
Männerduo erweitert um einen Fremden, der sich partout weigert, die Bar wieder zu verlassen und vorgibt, auf die Geburt seines Enkelkindes zu warten. Misstrauisch wird er beäugt – erst recht, nachdem im Radio von einem Mord in der Gegend berichtet wird.
Es ist Jussi, dem sich in der Nacht, oder ist es bereits der frühe Morgen, mit Eeva (Anu Sinisalo) noch Ristos Gattin hinzugesellt, bevor eine ganze Truppe junger Frauen auf der Suche nach Hochprozentigem die Bar stürmt. Aus der Jukebox kommt ein melancholisches Lied nach dem anderen, als sie sich die Endfünfziger gegenseitig ihre Geheimnisse erzählen…
Mika Kaurismäki, der Ende der 1970er Jahre an der Münchner Hochschule für Film und Fernsehen studierte und neben seinem Bruder Aki als bedeutendster zeitgenössischer Filmregisseur Finnlands gilt, erzählt in „Eine Nacht in Helsinki“ von drei Männern, deren gemeinsame lange Nacht bei gutem Wein und tiefen Gesprächen beinahe eine therapeutische Wirkung entfaltet. Und das in der Bar „Corona“, die von den Brüdern gemeinsam in Helsinki seit 30 Jahren betrieben wird. Der Regisseur im Arsensal-Presseheft: „Die Methodik bei diesem Film war so ganz anders als die konventionelle Art, Filme zu machen, es gab kein geschriebenes Drehbuch – die Geschichte wurde auf den Figuren aufgebaut. Die Schauspieler entwickelten gemeinsam mit dem Regisseur die Hintergrundgeschichten ihrer Charaktere und sie offenbarten weder die Entwicklung der Geschichte noch ihre Hintergründe ihren Mitschauspielern. Wir drehten chronologisch und die Schauspieler mussten die Dialoge entwickeln, während die Kamera lief, was bedeutete, dass sie ziemlich improvisieren mussten, aber die Improvisation war nicht frei wie in einem Jazzsolo, die Schauspieler mussten immer auf ihr Gegenüber reagieren und auf das aufbauen, was die Mitakteure gerade äußerten. Nur der Regisseur wusste, wie die Geschichte enden würde, aber auch er musste sich an das anpassen, was die Schauspieler lieferten. Der Zweck dieser Methode war, die Atmosphäre realer zu gestalten, als ob die Geschichte wirklich passierte. Es war fast so, als würde man einen Dokumentarfilm drehen, auch wenn alles reine Fiktion war. Es ist ein kollektiver Film, der auf ungewöhnliche Weise in diesen außergewöhnlichen Zeiten gedreht wurde.“
„Yö armahtaa“, so der Originaltitel, bedeutet „Habt erbarmen“. Nach der Uraufführung am 17. November 2020 auf dem Black Nights Film Festival im estnischen Tallinn und der deutschen Erstaufführung am 31. August 2021 auf dem Filmkunstfest Mecklenburg-Vorpommern in Schwerin sollte der Neunzigminüter „Eine Nacht in Helsinki“ ursprünglich Mitte Dezember 2021 in unsere Kinos kommen – und ist nun am 20. Januar 2022 gestartet. Bei uns zu sehen u.a. in der Endstation Bochum und im Sweetsixteen Dortmund.