halloherne.de lokal, aktuell, online.
Nermina Kukič übernimmt in Heiner Müllers „Philoktet“ am PRT die Titelrolle.

Fake News im Bochumer „Philoktet“

Drei Damen vom Mykonos-Grill

Weil Philoktet die Nymphe Chryse, die ihn liebte, verschmähte, muss er leiden. Von einer Schlange ins Bein gebissen, leidet er geradezu unmenschliche Schmerzen. Philoktet schwächt mit wilden, defätistischen Unheilsrufen über den bevorstehenden Kampf um Troja das griechische Heer, sodass Odysseus sich gezwungen sieht, ihn auf der unbewohnten Insel Lemnos auszusetzen.

In der Tragödie „Philoktet“ von Sophokles, 409 vor Christus in Athen uraufgeführt, kehrt Odysseus mit Neoptolemus, Sohn des Achilleus, heimlich auf die Insel zurück. Der Kampf um Troja geht ins zehnte Jahr und kein Ende ist abzusehen, weshalb der Feldherr den treffsicheren Bogenschützen mit seinen unentrinnbar totbringenden Pfeilen dazu bewegen will, an seiner Seite zu kämpfen. Neoptolemus soll dafür den Weg bereiten, sich in das Herz Philoktets einschmeicheln mit der Behauptung, auch er sei von Odysseus betrogen worden.

Doch der will von diesem Plan zunächst nichts wissen: „Ich bin nicht so geschaffen, / Irgend etwas mit übler List zu tun.“ Um sich dann doch von Odysseus umstimmen zu lassen, schließlich gehe es um Tod oder Leben eines ganzen Heeres. Philoktet bittet Neoptolemos, dass er ihn mit aufs Schiff nimmt und in die Heimat führt. Von einem Schmerzanfall überwältigt, übergibt Philoktet Bogen und Köcher an seinen vermeintlichen Retter.

Fake News seit 2431 Jahren: Nermina Kukič, Sina Ebell und Katja Heinrich in „Philoktet“.

Der Plan scheint aufzugehen, doch Neoptolemos kommen Skrupel und er berichtet Philoktet vom perfiden Plan des Feldherrn. Der taucht plötzlich auf und behauptet, Zeus zu dienen. „Ein Nichts bin ich“: Philoktet, seiner Waffen beraubt, verwünscht die Griechen und will sich vom Felsen stürzen, kann aber im letzten Moment noch daran gehindert werden.

Odysseus wäre bereit, Philoktet erneut auf der Insel zurückzulassen und nur mit seinen Waffen, welche ursprünglich die des Herakles gewesen sind, in den Kampf nach Troja zurückzukehren. Doch Herakles steigt vom Olymp herab, um die Beschlüsse Zeus' zu verkünden: Philoktet solle nach Troja gehen, wo er von seiner Krankheit befreit werde um dann mit seinem Pfeil Paris zu töten. Philoktet gehorcht...

Der üble Gestank der schwärenden Wunde Philoktets ist bei Heiner Müllers zwischen 1958 und 1964 entstandener und 1968 am Münchner Residenztheater uraufgeführter tragischer Satire der Grund der Verbannung. Sein „Philoktet“ kommt ohne Chor und die Deus ex machina-Figur Herakles aus: Aus der sophokleischen Tragödie, die für den Titelhelden noch halbwegs glücklich endet, macht der DDR-Dramatiker (1929 - 1995) ein Drama mit tödlichem Ausgang. Mit den Worten „Zum Helfer bin ich hier, zum Lügner nicht“ hat sich Neoptolemos noch Odysseus‘ Zumutung entziehen wollen. Vergeblich: „Doch braucht es einen Helfer hier, der lügt“ bestimmt sein Lehrmeister.

Neoptolemos, hier ganz braver und leicht manipulierbarer Schüler des verschlagen-skrupellosen Kriegshelden Odysseus, ersticht Philoktet von hinten. Für dessen „tausend Arme“ starke Truppe, die untätig vor Troja lagert, reichen die Waffen und der Leichnam ihres Anführers, um rachedurstig den Kampf wiederaufzunehmen: Mit Erfolg hat Odysseus an der Legende gestrickt, dass Trojaner den Bogenschützen meuchlings ermordet haben…

Fake News als Kriegslist hat es also schon vor 2431 Jahren gegeben. Hans Dreher hat am Bochumer Prinz Regent Theater die Müllersche Fassung als (Anti-) Kriegsgeschichte, Kriminalstück und Kammerspiel sehr nah an der Vorlage mit nur wenigen sprachlichen Aktualisierungen, Geräuschen und Musik aus dem Off inszeniert „in der stets messerscharfen Sprache des vielfach ausgezeichneten Dramatikers.“ Das ist mutig in einer Zeit postdramatischer Unterhaltung: Dreher setzt auf ein konzentriertes Publikum, das sich selbst Gedanken macht statt sie plakativ vorgesetzt zu bekommen.

Danach sah es in den ersten von insgesamt pausenlosen neunzig Minuten am Premierenabend des 18. September 2022 freilich nicht aus: Statt des vom Darsteller der Titelrolle in Clownsmaske gesprochenen Prologs „Sie sind gewarnt. Sie haben nichts zu lachen / Bei dem, was wir jetzt miteinander machen“ stürmen „Drei Damen vom Mykonos-Grill“ die Pappmache-Felsenlandschaft der Ausstatterin Clara Eigeldinger und machen das so erstaunte wie belustigte Publikum an. Mit stark hinkenden Analogien zum Fußball unserer Tage und seinen Stars wie Zlatan Ibrahimović.

Hans Dreher, der künstlerische Leiter des Bochumer Off-Theaters, hat sich für eine ausschließlich weibliche Besetzung entschieden: In der Titelrolle ist Nermina Kukič nach mehreren Jahren erstmals wieder am Prinz Regent Theater zu erleben. Katja Heinrich, zuletzt in Yasmina Rezas „Der Gott des Gemetzels“ eingesprungen, verkörpert den mit allen Wassern gewaschenen Demagogen Odysseus, während Sina Ebell als Neoptolemos ein nicht minder eindrucksvolles PRT-Debüt gibt.

Karten für die nächsten Vorstellungen am Mittwoch, 21. September 2022, am Donnerstag, 22. September 2022, am Freitag, 7. Oktober 2022, sowie am Montag, 31. Oktober 2022 (vor dem Feiertag Allerheiligen) unter prinzregenttheater.de oder Tel 0234 – 77 11 17.

Dienstag, 20. September 2022 | Autor: Pitt Herrmann