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Schulstunde im Museum mit der Lehrerin (Mirka Ritter) – und die Schüler sitzen im Parkett!

Lustvolle Aufklärung am WLT

Der Ursprung der Welt

Was haben der Erfinder der Cornflakes und die längst verweste Leiche einer skandinavischen Königin mit weiblicher Sexualität zu tun? Ersterer, John Harvey Kellog (1852–1943), hat die von ihm als gesundheitsschädlich angesehene Selbstbefriedigung (Masturbation) von Frauen durch Auftragen von Karbolsäure auf die Klitoris „behandelt“. Und die sterblichen Überreste Letzterer, Königin Christina von Schweden, wurden 1965 von einer Gruppe schwedischer Wissenschaftler exhumiert, um diese auf Spuren der zu Lebzeiten heiß diskutierten, aber nur vermuteten Zweigeschlechtlichkeit (Hermaphroditismus) zu untersuchen.

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Mit solch‘ grausigen Details wartet Liv Strömquists Comic-Album „Kunskapens frukt“ aus dem Jahr 2014 über die gesellschaftliche Tabuisierung von Menstruation und Vulva auf, das in vier Kapiteln unseren Umgang mit dem, „was als weibliches Geschlechtsorgan bezeichnet wird“, quer durch die Epochen und Kulturen darstellt und aus feministischer Sicht kritisch hinterfragt. Vom Sündenfall im biblischen Paradies über den Theologen und Philosophen Augustinus (345-430), der als „Erfinder“ des Zölibats (heute: katholischer) Geistlicher gilt, und Sigmund Freuds psychoanalytische Studien bis hin zur heutigen Tamponwerbung schlägt die studierte Politikwissenschaftlerin und erfolgreiche TV-Moderatorin, die 1978 im schwedischen Lund zur Welt kam, einen weiten Bogen, um die nach wie vor geltenden patriarchalen Machtverhältnisse in Frage zu stellen.

Thyra Uhde (vorn) verkörpert in schrillen comichaften Outfits die Unterrichtsgegenstände der unkonventionellen Lehrerin (hinten links: Mirka Ritter) und ihrer neugierigen Schülerin (hinten rechts: Luisa Cichosch).

Liv Strömquists Album kam 2017 im Berliner Avant-Verlag in deutscher Übersetzung unter dem Titel „Der Ursprung der Welt“ heraus und wurde Ende März 2020 erstmals für die Bühne adaptiert von Franziska Antzen am Niedersächsischen Staatstheater Hannover. Nun hat Anne Noack, Berlinerin des Jahrgangs 1983 und in der vierten Spielzeit Schauspielerin und Regieassistentin im Kinder- und Jugendtheater des Westfälischen Landestheaters, ein fulminantes Debüt als Autorin und Regisseurin hingelegt mit ihrer am Premierenabend des 13. Februar 2022 im Castrop-Rauxeler WLT-Studio frenetisch gefeierten Adaption für die eigene sechzigminütige Inszenierung für alle ab 14 Jahren.

Turbulent geht es zu im musealen Rahmen der Ausstatterin Rabea Stadthaus: Die unkonventionelle, aber selbst nicht von allen längst überkommenen Konventionen befreite Lehrerin (Mirka Ritter) erläutert ihrer neugierig-frechen, aber immer wieder auch gschamigen Schülerin (Luisa Cichosch) vor Gustave Courbets heute im Pariser Musée d’Orsay ausgestellten Gemälde „L’Origine du monde“, seit 1886 eine Provokation nicht nur für sittenstrenge weiße alte Männer, die Kulturgeschichte der Vulva. Und die der Scham: alles hat mit dem Sündenfall im Paradies begonnen, den Albrecht Dürer 1507 in zwei lebensgroßen Porträtgemälden von Adam und Eva darstellte, die heute im Museo del Prado in Madrid bewundert werden können.

Mit peinlichen Auswirkungen bis in unsere Tage: Der leitende Nasa-Wissenschaftler John E. Naugle ließ einen Strich im Schritt der Frau in den schematischen Darstellungen der menschlichen Anatomie entfernen, die der Raumsonde Pioneer 10 bei ihrem Start 1972 für die Begegnung mit Außerirdischen mitgegeben wurden. Apropos peinlich: Seit der Steinzeit und noch bis in die Antike hinein galt die Menstruation als Sinnbild der Fruchtbarkeit und wurde vielfach in Kunst und Kultur (Tempel der Muttergöttin Demeter) dargestellt. Heute lebt eine ganze Industrie vom Hygienekult der Reinheit und (olfaktorischen) Frische.

„Der Ursprung der Welt“ trägt den edukatorischen Ansatz schon im Titel. Die bisweilen aus feministischer Sicht ironisch überspitzte Sachinformation für Mädchen (und Jungen!) ab der 9. Klasse kommt auch keineswegs zu kurz. Im Zentrum von schriller Ausstattung (die Exponate führen ein Eigenleben: Thyra Uhde) und temporeicher, körperbetonter Inszenierung aber stehen der Spaß des Publikums – und die geradezu unbändige Spielfreude der drei Darstellerinnen im intimen WLT-Studio am Castrop-Rauxeler Europaplatz: Lustvoll wird den Heranwachsenden die ein oder andere Unsicherheit genommen bei nicht selbstverständlich öffentlich verhandelten Themen der eigenen Sexualität. Anne Noack war es zudem wichtig, weder zu belehren noch – im Hinblick auf die männerdominierte Historie – geschlechtsspezifisch nachzutreten: „Ich habe sehr darauf geachtet, dass nicht der Eindruck entsteht, dass es um ‘die bösen Männer und die armen Frauen‘ geht.“

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Die nächsten Aufführungen: Am 21. Februar 2022: 9 Uhr; 2. Mai:13:30 Uhr; 3. Mai: 9 und 13:30 Uhr; 30. Mai: 13:30 Uhr; 31. Mai 2022: 9 Uhr, 11:30 und 13:30 Uhr, im WLT-Studio am Europaplatz in Castrop-Rauxel sowie am 28. April 2022 um 10 Uhr im Theater Marl. Karten unter westfaelisches-landestheater.de oder Tel. 02305 – 97 80 20.

Vergangene Termine (8) anzeigen...
  • Montag, 21. Februar 2022, um 9 Uhr
  • Montag, 2. Mai 2022, um 13:30 Uhr
  • Dienstag, 3. Mai 2022, um 9 Uhr
  • Dienstag, 3. Mai 2022, um 13:30 Uhr
  • Montag, 30. Mai 2022, um 13:30 Uhr
  • Dienstag, 31. Mai 2022, um 9 Uhr
  • Dienstag, 31. Mai 2022, um 11:30 Uhr
  • Dienstag, 31. Mai 2022, um 13:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann