
Jugendstück bei den Ruhrfestspielen
Das Gesetz der Schwerkraft
„Ich bin hier. Allein.“ Und: „Beschissener Tag heute“. Fred (Marius Bistritzky), der eigentlich Frederick heißt, ist mal wieder umgezogen, das vierte Mal in den letzten Jahren. Zuletzt von Jottwehdeh nach Vorderstadt, was soviel bedeutet wie: Kleinstadt. Immer neue Gesichter in immer neuen Schulklassen. Seit seine Mutter einem Gehirntumor erlegen ist, müht sich der alleinerziehende Vater ab, dem 14-Jährigen diese zu ersetzen. Was naturgemäß nicht immer gelingt.
An einer Brücke, die über einen Fluss führt, trifft er auf Dom (Tim Czerwonatis), der eigentlich Dominik heißt. Sein Vater hat die Familie vor zehn Jahren verlassen, da war er gerade Vier. Seither ist seine Mutter depressiv – und verhält sich manchmal ziemlich durchgeknallt. Auf Schule, genauer gesagt die neunte Klasse der Gottfried-Glück-Schule, in die Fred demnächst geht, hat er keinen Bock mehr. Was offenbar weniger an den Lehrern liegt als am Mobbing seiner wenig kameradschaftlichen Altersgenossen.
Dom zeigt dem „Neuen“ die paar Sehenswürdigkeiten des Ortes, ihn aber lockt die auf der anderen Seite der Brücke gelegene Großstadt, deren Lichter nach Einbruch der Dunkelheit funkeln und wo immer etwas los zu sein scheint: „Muss toll sein, das Leben da drüben.“ Doch selbst traut er sich nicht, über die Brücke zu gehen. Jedenfalls nicht allein. Fred wäre bereit, mitzugehen.

Doch erstmal geht’s in die Schule. Und kehrt zufrieden zur Brücke zurück, bringt Dom eine Tüte Pommes mit: die Klassenkameraden sind nett zu ihm. An Halloween verkleidet sich Dom als Pop-Sängerin mit blonder Langhaar-Perücke und Kleid, aber auch mit angeklebtem Schnäuzer: So ganz als Mädchen will er sich nicht geben, zumal er auch gerne ein Kaktus wäre - oder eine Möwe, von denen es der Geräuschkulisse nach hier am Fluss offenbar eine Menge gibt. Was beide eint: So richtig zufrieden mit sich selbst sind sie nicht. Während Fred im Angesicht seiner Pickel der Auffassung ist, „der Spiegel beschimpft mich“, bedient sich Dom, als seine Mutter wieder vor dem Fernseher eingeschlafen ist, aus ihrem Medizinschränkchen.
Er hat sich martialisch mit Patronengürtel und Tarnanzug verkleidet, was auch daran liegt, dass er früher getanzt hat und darob von Mitschülern aufgezogen worden ist: „Ich gehörte von jetzt auf gleich nicht mehr dazu, als würde ich alles löschen, mein Leben, mein Profil.“ Dom und Fred imaginieren sich das Szenario eines Video-Horror-Spiels – mit den Mitschülern als Statisten. Als Fred am Valentinstag und danach mehr Zeit mit einer zur Freundin gewordenen Klassenkameradin verbringt, fühlt sich Dom verlassen und resümiert seine eigene familiäre Erfahrung: „Liebe ist scheiße“.
Es gilt, einen langen, kalten Winter zu überstehen. Lieber im Selbstmitleid baden als von der Brücke auf den zugefrorenen Fluss springen: der Tod ist ja so endgültig. Auch Dom kämpft mit den Unwägbarkeiten einer bipolaren Welt: Sein Status lautet wieder Single, nachdem seine Freundin Amelie ihm bekundet hat, nicht mit einem Mädchen zusammen sein zu können, dass so aussieht wie ein Junge. Wenigstens Quallen können ihr Geschlecht ändern und so träumen beide von einem Sommer ohne Gesetze – und ohne Schwerkraft: „Egal, wer wir sind, wir werden nie wie alle anderen.“
Mit „La loi de la gravité“, uraufgeführt am 21. September 2017 von der Compagnie La Nuit te soupire beim Festival des Francophonies en Limousin im französischen Limoges, thematisiert der 1982 im kanadischen Laval (Québec) geborene Autor, Übersetzer, ausgebildete Kriminologe und Montréaler Hochschullehrer Olivier Sylvestre die Freundschaft und die Akzeptanz, das Anderssein und die Selbstfindung pubertierender Heranwachsender in einer heteronormativ geprägten Gesellschaft. Das von Sonja Finck aus dem Quebecer Französisch übertragene, erstmals am 18. Januar 2019 am Landestheater Coburg auf Deutsch gespielte Stück „Das Gesetz der Schwerkraft“ ist die Geschichte zweier sehr verschiedenartiger 14-Jähriger, die dennoch gleichartiger nicht sein könnten.
Dom, der als Mädchen geboren wurde, sich aber gerne wie ein Junge kleidet, lehnt das gesamte Konzept Geschlechterrollen ab. Fred, der durchweg homosexuelle Tendenzen zeigt, will einfach nur ein „normaler“ Junge sein. Beide schmieden den Plan, die Kleinstadt, in der sie wohnen, zu verlassen, die metaphorische Brücke zu überqueren, die sie in eine utopische Großstadt und zur Erfüllung ihrer Wünsche führen soll. Ihr Weg dorthin ist geprägt von Diskriminierung, Ausgrenzung und falschen Freunden. Trotzdem legen sie ihn zurück.
Begriffe wie „schwul“ oder „transgender“ fallen im Stück nicht, werden aber vom Publikum mitgedacht, wenn es sich mit Fragen auseinandersetzt wie: Muss man einer gesellschaftlichen Norm entsprechen um akzeptiert zu werden? Und: Wer legt überhaupt Normen fest? Martina van Boxen, jahrelang überaus erfolgreiche Leiterin des Jungen Schauspielhauses Bochum (Trägerin des deutschen Bühnen-Oscar „Der Faust“), bis sie nach dem Intendantenwechsel vertrieben wurde und nun in gleicher Position am Staatstheater Kassel tätig ist, hat „Das Gesetz der Schwerkraft“ Anfang März 2020 im intimen Theater im Fridericanum herausgebracht mit zwei großartigen jungen Schauspielern, die pandemiebedingt freilich kaum vor Publikum auftreten konnten. Die Regisseurin ist noch stärker als der kanadische Autor darum bemüht, nicht alles auszusprechen und vieles in der Schwebe zu halten.
Für das ursprünglich im Theater Marl geplante mehrtägige Ruhrfestspiel-Gastspiel hat Sylwester Pawliczek („Machma Machma“) die gut sechzigminütige Aufführung für alle ab 13 Jahren verfilmt: keine starre Dokumentation der in der Ausstattung von Sibylle Pfeiffer, einem Konglomerat aus Treppen, Rampen und Geländern, ungemein lebendigen, dabei aber auch sehr sensiblen Inszenierung, sondern eine die spezifischen Möglichkeiten der Gattung nutzende Adaption, welche das stark körperliche Spiel der ungemein bühnenpräsenten Darsteller fast noch stärker in den Mittelpunkt rückt als es live im „tif“ möglich wäre. Nach der „Uraufführung“ am 10. Mai 2021 ist der Theater-Film noch bis einschließlich Donnerstag, 13. Mai 2021 um 12 Uhr On-Demand verfügbar unter digital.ruhrfestspiele.de.