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„Baroque“ in Bochum: Die Hernerin Karolin Jörig als Homo Monstrosus.

Mutige Hernerin Karolin Jörig

„Baroque“ in Bochum

Karolin Jörig, gebürtige Hernerin des Jahrgangs 1987, hat von 2008 bis 2011 eine Ausbildung zur Fachangestellten für Bürokommunikation absolviert und ist seitdem im mittleren Dienst einer Behörde tätig. Schon seit ihren Kindheitstagen wollte sie Schauspielerin werden und war daher dem Aufruf der belgischen Regisseurin Lies Pauwels zum Casting für ihre neue Produktion „Baroque“ am Schauspielhaus Bochum gefolgt.

Wie Felicitas Arnold und Clara Grigoleit auf der Homepage des Bochumer Theaters schreiben, hatte die Hernerin erwartet, dass sie Shakespeare-Texte aufsagen müsste. Besser: befürchtet, denn sie hätte nur Harry Potter zitieren können. Dass sie aber demonstrieren müsste, wie es aussieht, wenn ein Schuss sie treffen würde, sodass sie zu Boden geht, oder versuchen sollte zu sprechen, ohne dass es ihr gelingt, auch nur ein Wort herauszubekommen – und welche echten Gefühle bei solchen Übungen hochkommen können, damit hatte sie nicht gerechnet.

Barocke Lebensfreude v.l. Jasmin Schafrina, Ann Göbel, Eva-Maria Diers, William Cooper, Mercy Dorcas Otieno und Mourad Baaiz.

Karolin Jörig, so der Felicitas Arnolds und Clara Grigoleits Bericht vom Casting, steht ganz allein im Zentrum der Bühne. Sie ringt um Worte, spielt, dass sie nichts herausbekommt, deutet dabei ein leichtes Zittern an. „Oh, great. Beautiful!“, staunt eine Frau im Zuschauerraum begeistert, schiebt ihre Lesebrille hoch ins blonde, verstrubbelte Haar, um noch konzentrierter zur Bühne zu blicken. „Can you make that bigger? More?“ Karolin Jörig beginnt, stärker zu zittern, bis schließlich jede Faser ihres Körpers bebt. Lies Pauwels, die Regisseurin, dankt ihr begeistert: „Thank you for sharing this with us!“ Karolin Jörig geht zurück auf ihren Platz, greift, immer noch mit zitterndem Arm, nach ihrer Flasche mit Eistee. Sie ist bei vollem Körpereinsatz an ihr inneres Extrem gegangen. Jetzt können sich die Anstrengung legen – und auch die Emotionen.

Karolin Jörig gehört zusammen mit der Bochumer Berufsschülerin Jasmin Schafrina, der Essener Redakteurin Kathrin Brüggemann und der Dortmunder Studienrätin Eva-Maria Diers zur vierköpfigen Gruppe der Laien-Darsteller, die zusammen mit den fünf Ensemblemitgliedern Mourad Baaiz, William Cooper, Ann Göbel, Mercy Dorcas Otieno und Jing Xiang den rund zweistündigen Abend „Baroque“ gestalten. Zur Power-Musik von Johann Sebastian Bach, Georg Friedrich Händel und Henry Purrcell.

Es geht vor dem (Bühnen-) Hintergrund eines üppigen Stilllebens um die Zeit zwischen Renaissance und Klassizismus, in der ein dicker Körper nicht nur in den Gemälden eines Peter Paul Rubens für Wohlstand, Erfolg und Macht stand. Sondern etwa auch in den Skulpturen des Architekten Gian Lorenzo Bernini (Kolonnaden des Petersplatzes in Rom), eine ironisch-verfremdete Kopie seiner lebensgroßen Statue „Apollo und Daphne“ (mit einem stark gealterten, bärtigen Gott) gehört zur überbordenden Fülle der Ausstattung Johanna Trudzinskis. Nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges setzte in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts in nahezu allen Lebensbereichen eine Prachtentfaltung ein, die der Bilderstürmerei des nordischen Protestantismus die überschäumende Lebensfreude des südlichen Katholizismus entgegensetzte – auch als Ausdruck der Gegenreformation des römischen Papstes.

„Was fühlst du eigentlich unter all‘ diesen Schichten?“ fragt eine engelsbeflügelte Ann Göbel bewusst provozierend. Es geht Lies Pauwels, der in der Bochumer Spielzeit 2018/19 mit „Der Hamiltonkomplex“ ein Überraschungserfolg gelang, um den ganz aktuellen Wahnsinn der körperlichen Selbstoptimierung in den sogenannten 'Sozialen Medien', wo kommerzielle Influencerinnen bereits ganz junge Mädchen einem enormen Druck aussetzen. Den allerdings auch die vier gestandenen Frauen auf den Bochumer Brettern kennen, dem sie sich jedoch bewusst nicht aussetzen wollen und ganz im Gegenteil mit ihren Rubensschen Formen posierend die Schaulust des Parketts herausfordern: Karolin Jörig & Co blicken auf den eigenen Körper und wollen so wie sie sind wahrgenommen werden, wollen nicht mehr Außenseiterinnen im Blick der Anderen sein – und das ganz offensiv zeigen bis hin zum klassischen Rückenakt.

Was den Rahmen betrifft, durften sich die Darsteller offenbar rein assoziativ einbringen mit eigenen Ideen und Bezügen. Von Börsenkursen in der Übertitelungsanlage über skurrilste Verkleidungen und öde Selbstbezüglichkeiten (Mourad Baaiz: „Was mache ich überhaupt hier?“), über verquaste und kryptische Sätze („Es ist ein bisschen relativ eigentlich, ehrlich gesagt“) und sinnfreie Leiter-Akrobatik (Jing Xiang) bis zu vom Schnürboden herabfallende Papageien-Figuren und bewusste Aussetzer William Coopers in der Pop-Schnulze „Blue Velvet“ reicht das Spektrum schwer erträglicher Beliebigkeit.

Nach der umjubelten Uraufführung am 14. Mai 2022 an der Bochumer „Kö“ steht „Baroque“ nur noch viermal auf dem Spielplan: Am Freitag, 20. Mai 2022, um 19:30 Uhr, am Dienstag, 24. Mai 2022, um 19:30 Uhr, am Sonntag, 5. Juni 2022, um 19 Uhr sowie am Montag, 6. Juni 2022, um 17 Uhr mit anschließender Publikumsdiskussion. Karten gibt es auf der Homepage des Schauspielhauses oder Tel 0234 – 33 33 55 55.

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  • Freitag, 20. Mai 2022, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 24. Mai 2022, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 5. Juni 2022, um 19 Uhr
  • Montag, 6. Juni 2022, um 17 Uhr
Freitag, 20. Mai 2022 | Autor: Pitt Herrmann