
Düstere Vorstadt-Ballade
Bad Tales - Es war einmal ein Traum
In einer Reihenhaus-Siedlung in Spinaceto, einem kleinen Vorort am Rande Roms. Die Mittelschichts-Familie Placido hat sich einen aufblasbaren Pool geleistet und feiert die Neuanschaffung mit einem Gartenfest mit dem ganzen Viertel. Die Eltern Bruno (Elio Germano) und Dalila (Barbara Chichiarelli) lassen voller Stolz ihren Sohn Dennis (Tommaso di Cola) und seine Schwester Alessia (Giuletta Rebeggiani) die aktuellen Zeugnisnoten nach dem ersten Jahr auf der Mittelschule herunterbeten – sämtlich Einser mit Auszeichnung.
Da können die Rosas nicht mithalten: Viola (Giulia Melilio), Tochter von Pietro (Max Malatesta) und Susanna (Cristina Pellegrino) „muss sich noch ein wenig anstrengen“ in der Schule. „Das Gespenst von Canterville“ hat der in Italien „Professor“ betitelte Lehrer Bernardini (Lino Musella) seiner Klasse als Lektüre-Aufgabe für die Sommerferien aufgegeben. Der ehrgeizige Dennis gibt sich damit jedoch nicht zufrieden und lernt, dem väterlichen Arbeitsethos nacheifernd, auch im heißen Monat August daheim statt wie die anderen sich dem süßen Strandleben hinzugeben.

Wie etwa Geremia (Justin Korovkin), dessen Vater Amelio Guerrini (Gabriel Montesi) in der Trattoria „Mare Nostrum“ jobbt und abends Essensreste mit nach Hause bringt. Als er an Masern erkrankt ist, soll er die bisher von dieser Kinderkrankheit verschonte Viola, die inzwischen nach einem Kopfläusebefall eine schwarze Perücke über dem geschorenen blonden Schopf trägt, anstecken. Weshalb ihm Vater Amelio vorsichtshalber Kondome in den Schuhschrank legt und sich mit Violas Mutter Susanna in ein nahes Naturschutzgebiet verdrückt.
Auch Dennis macht erste sexuelle Erfahrungen – zunächst noch ungewollt mit der lasziven, um einiges älteren Nachbarstochter Vilma Tomasi (Ileana D’Ambre) im leeren Klassenraum. Vilma ist hochschwanger und plant, von daheim auszuziehen, weshalb sie den Jungen für einige Euro verführt. Solchermaßen auf den Geschmack gekommen, plant Dennis ein Date mit der fürs erste Mal bereiten Ada Tartaglia (Laura Borgioli) an einem aufgelassenen Pool unweit des Strandes. Aber er hat sich zu viel vorgenommen – und der ebenfalls blutjungen Rothaarigen erfriert das verschämte Dauerlächeln auf ihren Lippen.
Das neue Schuljahr beginnt mit einem Feuerwerk der besonderen Art – und mündet in einer Katastrophe. Die sommerliche Leichtigkeit war schon von Beginn an von einer zunächst rätselhaften Stimmung der Beklommenheit begleitet worden. Das ruhige Leben ganz normaler, wenn auch um ihren Lebensstandard kämpfenden Familien entpuppte sich bei näherem Hinsehen als eine große Lüge: Bruno Placido rastet immer häufiger aus, schlägt seine Kinder bei geringsten Anlässen. Und lässt sich nicht nur von der Nachbarschaft, sondern auch von seiner Gattin Dalila als Vorzeige-Papa feiern. Amelio Guerrini lebt stets mit einem Bein im Kleinkriminellen-Milieu – und Vilma Tomasi bringt eine ungewollte Tochter zur Welt…
„Bad Tales“ („Favolacce“), bei der 70. Berlinale 2020 für das Beste Drehbuch mit dem Silbernen Bären prämiert, erzählt von Frauen, Männern und Kindern, die allzu früh erleben, wie ihre Träume und Hoffnungen auf der Strecke bleiben. Das, so die Filmemacher Damiano und Fabio D’Innocenzo, „dunkle Märchen mit einem spöttischen Erzähler“ (Massimiliano Tontora aus dem Off), ist coronabedingt erst jetzt in unsere Kinos gekommen. Das emotional wuchtige 98-minütige Drama ist erst der zweite Kinofilm der 1988 in einem Vorort Roms geborenen Zwillingsbrüder D’Innocenzo, die sich seit ihrer Kindheit für Fotografie, Lyrik und Malerei interessieren und heute als „Wunderkinder“ des italienischen Kinos gelten. Die Autodidakten hatten bereits mit ihrem Debütstreifenfilm „Boys Cry“ („La terra dell’abbastanza“), auf der Berlinale 2018 in der Sektion Panorama gezeigt, Erfolg und erhielten mehrere Auszeichnungen.
„Bad Tales – Es war einmal ein Traum“ ist in unserer Region im Bochumer Kino Endstation, im Sweetsixteen Dortmund, in der Galerie Cinema Essen sowie im Düsseldorfer Bambi angelaufen – als allzu düstere, da hoffnungslose Banlieue-Ballade einer freudlosen Jugend mit einem hier nicht gespoilerten bitteren Ende.