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Barchini nennt man die schnellen Motorboote, die verbotenerweise Venedigs Lagune durchpflügen.

Artifizieller Venedig-Film

Atlantide

An der Vaporetto-Station Punte Vela eine halbe Wasserbus-Stunde vom Markusplatz entfernt tummeln sich Mädchen und Jungen unbeschwert im Wasser. Sie genießen die Sommerferien auf Sant’Erasmo, der größten Insel in der Lagune von Venedig. Daniele Zanon (Daniele Barison) kann das nicht von sich behaupten. Der 24-Jährige hilft eher lustlos beim Gemüseanbau. Immer wenn eines der Barchino genannten Motorboote vorbeirast, lässt er die Hacke ruhen und blickt ihm träumerisch-neidvoll hinterher.

Zwar sind hier nur sieben Stundenkilometer erlaubt, aber die schnittigen Boote mit getunten Außenbordern bringen es bei illegalen Wettrennen testostorongesteuerter junger Männer auf bis zu 85km/h. Ausweislich einer einem Bricola genannten Pfahl zur Markierung der Fahrtrinne eingeritzten Top-Speed-Liste. An der Daniele immer ‘mal wieder vorbeischaut mit seinem Boot. Denn auch für ihn zählt nur eines: das durch eine „Nase“ Kokain aufgeputschte rauschhafte Geschwindigkeitserlebnis in den nachts mit bunten Lichtern verzierten Rennmaschinen, deren Bug bei aufgedrehtem Motor hoch in den Himmel ragen.

Das muss auch seine Freundin Maila (Maila Dabalà) leidvoll erfahren. Zwar ziert ihr Name Daniels Barchino gleich neben dem Schriftzug „Racing“, doch bei einem der regelmäßigen Jugendtreffs auf der abgelegenen, nur von einer Handvoll Mönche bewohnten Isola San Francesco del Deserto gesteht sie einer Leidensgenossin, dass sich Daniele weit mehr mit seinem Traum eines rekordträchtigen Motorbootes, das ihm Respekt verschaffen und an die Spitze der Gruppenrangliste katapultieren soll, beschäftigt als mit ihr: „Daniele ist keiner zum Knutschen und Kuscheln.“ Außer belanglosen Wortwechseln passiert zwischen ihnen nichts.

Der 24-jährige Gemüsebauer Daniele Zanon (Daniele Barison) blickt neidisch auf die Barchini und setzt sich ein ehrgeiziges Ziel. Foto: Rapid Eyes Movie

In der Ferne fahren Kreuzfahrtschiffe nach Venedig hinein. Die jungen Leute haben Bier und Soundmaschinen dabei mit nicht stubenreinen Texten des 25-jährigen italienischen Rappers Sick Luke alias Luca Antonio Barker zur eher abschätzig-belustigten Ozeanriesen-Schau. Tristesse und Langeweile bestimmen ihren Alltag, wohl auch Arbeitslosigkeit und Drogenschmuggel. Kommt ihnen eine Patrouille der Guardia di Finanza in die Quere, sind ihre Boote in der Regel stärker motorisiert.

Als Daniele in der Nacht zum Wettkampf antritt, hat er die Maila-Buchstaben längst vom Bug gekratzt, mit einer vergleichsweise aufregenden Blondine (Bianka Berényi) gekokst und unter dröhnenden Beats mit ihr Sex im Boot gehabt. Er hat, wie eine venezianische Nachrichtensprecherin am anderen Morgen im Fernsehen verkündet, das Rennen nicht überlebt: Sein Boot ist gegen eine im Kanal treibende Dalbe gerast und hat aus noch unbekannten Gründen Feuer gefangen.

In der nächsten Nacht sind mehr als ein halbes Dutzend popartig beleuchtete Barchini in den engen Kanälen Venedigs unterwegs – ein etwas anderer, wortloser Trauerzug. Pinien biegen sich im Gewittersturm. Dazu horrible Acqua alta-Bilder von überschwemmten Straßen und Plätzen. Die zum Weltkulturerbe gehörende Serenissima scheint dem Untergang geweiht – und steht in der letzten halben Stunde des 104-minütigen Films „Atlantide“ im wahren Wortsinn Kopf!

Der Titel des ersten abendfüllenden Spielfilms des italienischen Videokünstlers und Dokumentaristen Yuri Ancarani bezieht sich auf die Atlantiden (von frz. L'Atlantide), die Bewohner der erstmals in der Antike von Platon in den Dialogen Kritias und Timaios beschriebenen mythischen Insel Atlantis. Der in Ravenna geborene 50-Jährige hat in seinen bildkünstlerischen und filmischen Arbeiten immer schon versucht, Bereiche des täglichen Lebens sichtbar zu machen, die sonst im Verborgenen liegen. Für „Atlantide“ lebte er zwei Sommer lang in einem kleinen Haus inmitten von Gemüsegärten auf Sant'Erasmo und fand so die Treffpunkte der Jugendlichen Venedigs und der der Lagunen-Inseln.

Unterlegt mit einem vielfältigen Soundtrack, der Elektrobeat, Hip-Hop und Orchestermelodien von Lorenzo Seuni und Francesco Fantini vereint, gleiten die beleuchteten Boote in magischen Bildern Ancaranis, in Personalunion Autor, Regisseur, Kameramann und Editor, durch die Lagunenlandschaft und die morbide Schönheit Venedigs. Mensch und Stadt sind mit der Lagune und dem Wasser verwurzelt und, darauf verweist der Filmtitel, sie werden wie die sagenhafte, versunkene Stadt Atlantis dereinst untergehen.

„Atlantide“ feierte am 2. September 2021 seine Uraufführung im Wettbewerb der 78. Internationalen Filmfestspiele von Venedig und war neben der Deutschen Erstaufführung am 24. Oktober 2021 beim Film Festival Cologne auf zahlreichen internationalen Festivals zu Gast. Beim Luxemburg City Film Festival 2022 gewann er den „Grand Prix“ und beim La Roche-sur-Yon International Film Festival den „Prix Nouvelles Vagues Acuitis“. Kinostart ist der 8. September 2022, bei uns zu sehen im Sweetsixteen Dortmund sowie im Metropol Düsseldorf.

Donnerstag, 8. September 2022 | Autor: Pitt Herrmann