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Pietà: Dominik Dos-Reis und Anna Pocher.

Postkapitalistisches Requiem

After Work im Schauspielhaus Bochum

Zum Auftakt des Neuen Jahres am Schauspielhaus Bochum beschäftigen sich der belgische Choreograph Rob Fordeyn, die Bühnenbildnerin Nadja Sofie Eller (zuletzt „O, Augenblick“) und der bisweilen regieführende Dramaturg Tobias Staab mit Lohn-, Leih-, Hilfs- und Sexarbeitern. Das beginnt mit der Entdeckung der Hand als dem entscheidenden Werkzeug für die Menschwerdung des Affen und führt über esoterische Coaching- und Selbstoptimierungsversuche heutiger Beschäftigter direkt zum Burnout.

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Am Ende ihres am 11. Januar 2020 uraufgeführten „postkapitalistischen Requiems“, das unter dem Titel „After Work“ binnen neunzig nicht durchgängig spannender Minuten einen weiten Bogen über fünf Jahrhunderte schlägt, wagen sie einen Ausblick in die Zukunft, in der nicht zuletzt durch die sog. Künstliche Intelligenz das einst allein sinnstiftende Konzept „Arbeit“ überwunden sein wird. Wie es sich für eine Missa pro defunctis, eine Messe für die Verstorbenen, gehört, beginnt das Requiem mit dem Introitus, der Einleitung. Die vier Ensemblemitglieder Mourad Baaiz, Anne Riestmeijer, Ulvi Teke und Dominik Dos-Reis versammeln sich um die umjubelte Bochum-Rückkehrerin Anna Pocher zu einem mit „Renaissance“ überschriebenen Tableau vivant im Stil der flämischen Barockmaler Frans Hals oder Peter Paul Rubens.

Renaissance-Aufstellung: Mourad Baaiz, Anne Rietmeijer, Ulvi Teke, Anna Pocher und Dominik Dos-Reis.

Auch die Kostüme dieses recht starren „lebenden Bildes“ verweisen auf die der Renaissance folgende Epoche der Gegenreformation: In ihrem Abwehrkampf gegen die ketzerischen Lutheraner setzte die katholische Welt auf die „Spanische Kleidermode“ mit ihren ausladenden Halskrausen. Bevor sich das Bild auflöst, taucht Anne Rietmeijer im Affen-Kostüm auf, als wollte sie Kafkas „Bericht für eine Akademie“ geben. Doch die ersten beiden gesprochenen Sätze stammen aus Heiner Müllers 1958 in Leipzig uraufgeführtem Stück „Der Lohndrücker“. Sie leiten über auf den ersten Teil des Requiems, das Kyrie eleison. Wie auch die Stühle, von denen sich Mourad Baaiz und Anna Pocher erheben: filigrane Designerstücke mit sehr hohen Lehnen. Entworfen von Charles Rennie Mackintosh, einem führenden Vertreter der vorindustriellen Arts-and-Craft-Bewegung Mitte des 19. Jahrhunderts.

Die Anrufung Gottes um Erbarmen sich mit der industriellen Revolution gerade in unserer Region auseinander. Wobei sich der Wandel der Arbeitswelt nicht zuletzt in den Kostümen offenbart – vom Blaumann zum feinen Zwirn. Die Renaissance, der im 15. und 16. Jahrhundert von geradezu revolutionären Umbrüchen geprägte Übergang vom Mittelalter zur Neuzeit, ist auch Ausgangspunkt des nächsten Tableau vivant. Anna Pocher, einst Protagonistin in Reinhild Hoffmanns Bochumer Compagnie und seither Dozentin an der Essener Folkwang Universität, steht seit einem Vierteljahrhundert erstmals wieder auf den Brettern. Als Mater dolorosa, die um ihren von Dominik Dos-Reis verkörperten Sohn trauernde Maria. Ausgangspunkt dieser ikonischen Pietà, welche sich rasch auflöst zu weiteren Verbindungen sich tröstender und liebender Menschen, ist ein Hauptwerk der Renaissance, Michelangelos Marmorskulptur im Petersdom zu Rom.

Anna Pochers rotes Kostüm aber zitiert ein filmisches Werk von 1988: „Dead Ringers“ („Die Unzertrennlichen“). Auf den Psycho-Horrorstreifen von David Cronenberg wird auch im Mittelteil Dies irae rekurriert – wie auch auf Stanley Kubricks zwanzig Jahre älteren Science-Fiction-Klassiker „2001- Odyssee im Weltraum“. Nur dass der dort unterlegte hymnische Walzer „An der schönen blauen Donau“ von Johann Strauß in die suggestive Walzer-Überschreibung der Oper „Der Rosenkavalier“ von Richard Strauss mündet. Zum „Jüngsten Gericht“ gibt’s die einzige längere Textpassage des Abends, ein Precis der Erzählung „In der Strafkolonie“ von Franz Kafka aus dem Jahr 1914. Reduziert auf die nackte, emotionslose Schilderung der Funktionsweise einer mittelalterlich anmutenden Foltermaschine, deren Teile Bett, Egge und Zeichner genannt werden. Dazu demonstriert die einstige Berliner Staatsballett-Ballerina und heutige Choreographin Dasniya Sommer an zwei Schauspielern die hohe Kunst des Fesselns auf traditionelle Art des japanischen Shibari. Mit Bondage zur Befreiung des Menschen von der Lohn- und Fronarbeit im Schlussteil des Requiems, Lux aeterna. Auf dass uns ein ewiges Licht der Hoffnung leuchte...

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Muss man als Theaterbesucher all' diese Hintergründe und Anspielungen wissen zu dem, was sich auf der Guckkasten-im-Guckkasten-Bühne an der Bochumer „Kö“ abspielt, einem Mittelding zwischen dem sakralen Raum einer Totenmesse und grünzeugbestückter moderner Bürolandschaft mit Kaffeebar, Trimm-Laufband und Snoezelen-Ecke? Keineswegs! Man kann den vier Schauspielern und zwei Tänzerinnen auch rein intuitiv zuschauen, sich ikonischer Bilder aus dem kollektiven Gedächtnis vergewissern, die Musik als atmosphärische Landschaft genießen und mit Auszügen aus Harun Farockis dokumentarischer Kompilation „Arbeiter verlassen die Fabrik“ von 1995 auf die Frühzeit der Industriearbeit zurückblicken.

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  • Dienstag, 14. Januar 2020, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 17. Januar 2020, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 19. Januar 2020, um 19:30 Uhr
  • Freitag, 31. Januar 2020, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann