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Wolfgang Wirringa und Neven Nöthig.

Dialoge zweier Väter am WLT

Wir haben Worte

„Wir haben eine Botschaft: es ist möglich, miteinander zu reden“: Mit diesen von Georges Salines (Neven Nöthig) an Azdyne Amimour (Wolfgang Wirringa) gerichteten Worten endet nach intensiven 75 Minuten das Zwei-Personen-Stück „Wir haben Worte“ des leitenden Dramaturgen am Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel, Christian Scholze. Das Publikum der Uraufführungs-Premiere im Recklinghäuser Ruhrfestspielhaus braucht eine Weile, um Atem zu holen - und spendet dann den beiden Protagonisten minutenlang begeistert Beifall.

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Es geht um einen der schlimmsten islamistischen Terroranschläge nach 'Nine Eleven', der sich am 13. November 2015 in Paris ereignet hat: Bei den Angriffen auf das Stade de France, wo gerade die französische gegen die deutsche Fußball-Nationalmannschaft kickt, auf das beim Konzert der amerikanischen Rockband „Eagles of Death Metal“ ausverkaufte Kulturzentrum Bataclan, sowie auf mehrere Bars und Restaurants sterben 130 Menschen, 683 werden verletzt.

Unter den Opfern im Bataclan ist die 28-jährige Lola Salines – und einer der Täter der gleichaltrige Samy Amimour, der vom Anti-Terror-Kommando der französischen Polizei auf der Bühne getötet wurde. Dessen Vater Azdyne Amimour unternimmt Jahre später den Versuch, mit Eltern der Opfer ins Gespräch zu kommen. Lolas Vater Georges Salines ist bereit dazu. Der Dialog zwischen den beiden erschien Anfang 2020 in Frankreich als Buch mit dem Titel „Il Nous Reste Les Mots“ („Uns bleiben die Worte“).

Wolfgang Wirringa und Neven Nöthig.

„Niemand wird sich dieser Geschichte entziehen können“: In Ermangelung einer deutschen Ausgabe hat Christian Scholze aus der englischen Übersetzung eine Bühnenfassung geschrieben und diese den beiden Autoren Georges Salines und Azdyne Amimour bei zwei Besuchen in Paris vorgelegt. Nach ihrem Plazet ist das Stück ins Deutsche übersetzt und vom WLT-Intendanten Ralf Ebeling entsprechend der Entwicklung der Gespräche zweier durch den Tod ihrer Kinder verbundenen Männer als Dreiakter urinszeniert worden. Die Dialoge sind authentisch, Neven Nöthig und Wolfgang Wirringa aber verkörpern in gleichem Outfit vor einheitlich-schlichter Kulisse (Ausstattung: Jeremias Vondrlik) Theaterfiguren.

Georges Salines hat nach der Ermordung seiner Tochter, die er als äußerst lebensbejahend, offen und weltgewandt beschreibt, eine Selbsthilfe-Gruppe gegründet. Als Amtsarzt war er zumeist in ehemaligen französischen Kolonien tätig, sodass Lola und ihre beiden älteren Brüder schon in ganz jungen Jahren mit unterschiedlichen Kulturen in Berührung gekommen sind. Nach erstem, beiderseitig vorsichtigem Abtasten stellt Georges Fragen, die sich auch sein Gegenüber Azdyne, ein gläubiger, aber nicht praktizierender Muslim mit algerischen Wurzeln, gestellt hat. Wie konnte es dazu kommen, dass Samy Amimour, geboren und aufgewachsen in Paris, sich radikalisiert und sich in Syrien dem „Islamischen Staat“ angeschlossen hat?

Es sind insistierende Fragen, die Azdyne wie ein Verhör vorkommen müssen. Der erfolgreiche Unternehmer, der sich hochgeschuftet hat, um aus den Banlieues herauszukommen, stellt sich ihnen dennoch, und zwar gerade weil in seiner Familie nie über Samys Tat gesprochen worden ist: „War ich zu nachsichtig mit ihm?“ Azdyne hat versucht, Samy wie dessen beiden Schwestern die christliche Kultur Frankreichs nahezubringen, indem etwa daheim Weihnachten gefeiert wurde. Samy hat sein Jurastudium geschmissen und sich zum Busfahrer ausbilden lassen, ist einem Polizei-Schießsportverein beigetreten. Für ihn war der Islam ein identitätsstiftendes Versprechen für seine Zukunft – und Wegbereiter für seinen Beitritt zur Terrormiliz al-Nusra-Front in Syrien.

„Wir haben Worte“ stellt grundsätzliche Fragen zu Schuld und Sühne, zu Schicksal und gesellschaftlich-kultureller Determination. Nicht mit besserwisserisch erhobenem Zeigefinger, sondern durchaus menschlich-emotional. Das Stück findet ebenso wenig schlüssige Antworten wie die beiden Väter. Deren Gespräche ihnen jedoch Kraft gegeben haben, diese öffentlich zu machen. Nach dem Buch nun auch auf der Bühne – am WLT mit zwei in unserer Region bestens eingeführten Schauspielern, die in der Lage sind, mit minimaler Gestik und Mimik das Innerste ihrer Figuren nach außen kehren.

Neven Nöthig, geboren 1960 in Zagreb/Kroatien und aufgewachsen in Düren/Rheinland, hat eigentlich quer durch die Republik auf den Brettern gestanden, langjährige Gastverträge gabs in Wiesbaden, Luxemburg und Esslingen, beim WLT (zuletzt „Verräter“ von Can Dündar) sowie am Theater Kohlenpott in Herne (u.a. „Tschick“, zuletzt „Besuch aus Tralien“). Wolfgang Wirringa, Jahrgang 1957, absolvierte die Schauspielausbildung in Köln sowie seiner Heimatstadt Düsseldorf. 1979 war er Gründungsmitglied der freien Schauspielkompanie „Jhawemirc” und der Spielstätte „Hansa-Palast” in Düsseldorf. Nach achtjährigem Engagement am „Theater an der Luegallee” in Düsseldorf folgten Neuss und Frankfurt/Main, regelmäßig ist der Schauspielcoach der Dramaschule Düsseldorf auch im Essener Theater Freudenhaus zu Gast.

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„Wir haben Worte“ ist wieder am Freitag, 5. November 2021, um 20 Uhr im WLT-Studio am Europaplatz in Castrop-Rauxel zu sehen. Mehr Info und Karten oder Tel 02305 – 97 80 20.

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  • Freitag, 5. November 2021, um 20 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann