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Als Hartmut Brücken (Wotan Wilke Möhring, r.), Meister im Chemiekombinat Bitterfeld, Job und Wohnung in Magdeburg angeboten bekommt, greift er zu. Ohne seine Frau Claudia (Franziska Petri) zu fragen, die gar nicht begeistert ist.

Wotan Wilke Möhring als Bitterfelder Brigadier

Tage des Sturms

Am 16. Juni 1953 demonstrieren Bauarbeiter am Strausberger Platz in Ost-Berlin gegen die von Einheitspartei und Gewerkschaft durchgedrückte Normerhöhung von zehn Prozent. Am Tag darauf hat sich, ganz ohne Handy, Internet, Facebook und Twitter, der Protest auf dreihundert Städte und Gemeinden in der ganzen DDR ausgeweitet. Dabei geht es weiterhin um die Erhöhung der Normen, aber auch um andere politische Themen: Gefordert werden u.a. freie und geheime Wahlen sowie die Auflösung der kasernierten Volkspolizei.

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Auch im von der Hauptstadt der DDR weit entfernten Bitterfeld kommt es zu Protesten. 50.000 Menschen, darunter ganze Brigaden aus den beiden Kombinaten des Nachbarortes Wolfen, sollen sich auf den „Binnengärtenwiesen“ versammelt und ein Streikkomitee gegründet haben. Es gibt keine Bild- oder Tondokumente, wohl aber Zeitzeugenberichte – und natürlich die Unterlagen der Staatssicherheit. Etwa über den Lehrer Wilhelm Fiebelkorn, den gewählten Bitterfelder Streikführer. Der in mehreren schriftlichen Noten etwa an die SED-Parteiführung in Berlin oder das Oberkommando der russischen Besatzungsarmee in Berlin-Karlshorst betont hat, dass es sich hier im Chemiedreieck vor den Toren Leipzigs um „keine faschistische Erhebung“ handele, sondern die Streikenden Reformen innerhalb der sozialistischen Gesellschaftsordnung forderten.

Hartmut Brücken (der Herner Wotan Wilke Möhring), ein junger Meister und Brigadier im VEB Elektrochemischen Kombinat in Bitterfeld, ist der – fiktive – Streikführer des Fernsehfilms „Tage des Sturms“, der noch vor der Erstausstrahlung am 7. Mai 2003 in der ARD seinen eigenen Sturm entfacht hat: Drehbuchautor Erich Loest („Nikolaikirche“) klagte gegen die Bavaria-Tochter Saxonia Media nicht nur wegen ausstehender Honorare, sondern auch aus inhaltlichen Gründen: „So etwas habe ich noch nicht erlebt“ bekundete der entsetzte Drehbuchautor, „ich wollte einen harten politischen Film machen ohne Eifersuchtsgeschichten oder Nacktbaden.“.

Es kam zum Bruch, sodass der Produzent Hans-Werner Honert auch als Drehbuchautor einspringen musste. Der Loests Kritik am fehlenden Niveau nicht nachvollziehen konnte: „Wir wollten keinen Agitationsfilm, sondern einen, der von unten herauf die Motivlagen der Figuren zeichnet. Weshalb wir Loests Drehbuch wegen ideologisierender Texte abgelehnt haben“, so Honert. „Selbst Klaus Staeck und Walter Jens von der Berliner Akademie der Künste haben uns zu dieser Geschichtsverarbeitung auf hohem politischem Niveau gratuliert.“

Hartmut Brücken lebt zusammen mit seiner Frau Claudia, die bei der Reichsbahn beschäftigt ist, unter einem Dach mit den Schwiegereltern, Alfred (Peter Sodann) und Herta Mannschatz (Thekla Carola Wied). Alles ist ein bisschen beengt, und das ist nicht nur räumlich gemeint: Alfred ist ein in der Wolle gefärbter Sozialdemokrat, der sich nur zähneknirschend mit der Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur Sozialistischen Einheitspartei SED arrangiert hat. Und nun zusehen muss, wie ein einstiger SPD-Genosse nach dem anderen kalt abserviert wird von den aus dem Exil zurückgekehrten Kommunisten. Weshalb er demonstrativ das SED-Parteibuch zurückgibt.

Als Hartmut Arbeit und Wohnung in Mecklenburg angeboten bekommt, sieht er darin nicht nur beruflich eine Chance, doch Claudia will nicht „in die Pampa“. Der Streit hätte sich zu einem ernsten Konflikt ausweiten können, wenn nicht die politischen Ereignisse des 17. Juni 1953 dazwischengefunkt hätten. Als der politische Protest von Berlin anderntags auch auf Bitterfeld übergreift, wird Hartmut ausdrücklich gegen seinen erklärten Willen in die Streikleitung berufen. Er versucht, mäßigend auf die vielen jungen, weitaus radikaleren Arbeitskollegen des eigenen wie der anderen Kombinate aus der Umgebung, von denen komplette Schichten zur Demonstration nach Bitterfeld strömen, einzuwirken.

Währenddessen wendet sich der hilflose Bürgermeister (Dieter Bellmann) vergeblich an die abgetauchten höheren Parteiinstanzen in der Hauptstadt. Dagegen tagen die Offiziere der Staatssicherheit rund um die Uhr – in engem Kontakt mit den sowjetischen „Befreiern“. Bruno Pfefferkorn (Hans-Peter Hallwachs), der Stasi-Chef in Bitterfeld, gehört zu den Hardlinern, der die sowjetischen Panzer lieber heute als morgen auf den Plätzen und Straßen rollen sähe. Ein Hundertzehnprozentiger, der in den Märzkämpfen von 1921 an der Seite Alfreds gestanden hat. Und sich heute nur noch ungern an die Ideale von einst erinnert, zu sehr klafft der Spalt zur sozialistischen Realität des Arbeiter- und Bauernstaates.

Trotz Ausgangssperre wagt Hartmut Brücken (Wotan Wilke Möhring, l.), der sich hinter einem Panzer versteckt, die Flucht.

Als sowjetische Panzer den kurzen politischen Frühling schließlich auch hier in der Provinz beenden, soll Hartmut verhaftet werden. Doch dank der Solidarität der Arbeiter gelingt es ihm, in den Westen zu fliehen, obwohl der eifersüchtige Vorgesetzte seiner Frau den Plan verraten hat. Dafür wird nun die schwangere Claudia denunziert und verhaftet. Und Alfred von seinem einstigen Kameraden unter Druck gesetzt: Er soll in den Westen reisen und seinen Schwiegersohn zur Rückkehr bewegen, erst dann komme seine Tochter frei. Die beiden treffen sich zu einem Glas Wein hoch über dem Rhein...

„Tage des Sturms“, im Sommer 2002 in Katowice und Wroclaw (Breslau) gedreht, ist über gut neunzig Minuten konventionell erzählt, was durch die enorme zeitgeschichtliche Bedeutung jedoch wieder wett gemacht wird – und die tolle Besetzung. Die reicht bis in kleinste Episodenrollen: Ernst-Georg Schwill etwa spielt einen Werkspförtner, der ebenso die Flucht Hartmut Brückens unterstützt wie der von Wolfgang Winkler verkörperte Lokführer. Mit der unspektakulären Erzählweise geht eine Genauigkeit bis in kleinste Details einher, die dem Fernsehfilm des Regisseurs Thomas Freundner die Authentizität eines Dokumentarstreifens verleiht. Was klar die Handschrift Erich Loests trägt und zugleich seinen Unmut über die dem fiktionalen Genre geschuldete Abschweifungen der Regie erklärt.

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„Tage des Sturms“ läuft am Montag, 31. Mai 2021, um 12.25 Uhr im „Dritten“ des Mitteldeutschen Rundfunks (MDR) sowie in der ARD-Mediathek.

| Autor: Pitt Herrmann