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„Rosinen im Kopf“ mit (v.l.) Christian Giese, Nina Reithmeier, Jens Modalski, Roland Wolf, Jennifer Breitrück und Laura Leyh.

Familienstück mit fetziger Musik im Grips-Stream

Rosinen im Kopf

„Schweinegrippe“ schnarrt eine Stimme aus dem Schulhof-Lautsprecher des Berliner Gymnasiums. „Die Schule bleibt für drei Wochen geschlossen.“ Es könnte das Stück der Stunde sein, „Rosinen im Kopf“ von Thomas Ahrens und Volker Ludwig (Liedtexte) für alle ab neun Jahren, das am 3. Dezember 2009 im Grips Theater am Hansaplatz uraufgeführt wurde. Und nun für eine Woche vom 1. bis 8. Mai 2020 auf dem coronabedingt virtuellen Spielplan des legendären Berliner Kinder- und Jugendtheaters steht: die Aufzeichnung einer Aufführung im April 2010 kann kostenlos unter grips-online/sehen gestreamt werden.

Doch bei der Lautsprecherdurchsage handelt es sich um eine Ausgeburt der überbordenden Phantasie des zehnjährigen Nico Hannemann (überragend: Jens Modalski), der lieber vom Urlaub in der Südsee träumt, vom blauen Meer, weißem Sandstrand und Kokospalmen als in der Schule eine Englischarbeit zu schreiben. Da gibt er lieber vor, sich die Hand verstaucht zu haben – und hängt an der Bushaltestelle ab. Was seine Klassenkameradin Sonja (Jennifer Breitrück) nicht verstehen kann, obwohl sie von Nicos Improvisationstalent, etwa wenn er Michael Jackson imitiert, begeistert ist: „In Luftschlössern lebt er“ singt sie und: „Träumt sogar im Stehen“ vom unbeschwerten Dasein als „Millionär mit Sekretär“.

Als Nico in und mit einer Abfalltonne als einzigem Requisit eine bühnenreife Slapstick-Show hinlegt, hält Oliver Steinberg (Roland Wolf) sie auf seinem Smartphone fest. Was kein Wunder ist – als Sohn des erfolgreichen Filmemachers Hajo Steinberg (Christian Giese). Der dreht zwar nur Werbefilme, macht damit aber soviel Knete, dass er sich jeden Luxus leisten kann, von einer tollen Villa mit Garten über einen Porsche bis hin zu Urlaubsreisen in die exotischsten Länder – und mit Marion (Laura Leyh) eine neue, naturgemäß erheblich jüngere Frau.

Was Jens, dessen alleinerziehender Vater Otto (Doppelrolle für den großartigen Christian Giese) als Fahrradkurier nur einen schlecht bezahlten Job hat, sogleich vor Neid erblassen lässt. Jens kann jedes Jahr die Großen Ferien nur im Oderbruch bei Oma Herder (auch Laura Leyh) verleben – auf dem Bauernhof! Oliver und seine Schwester Pia (Nina Reithmeier) dagegen reisen um die Welt, tragen superteure Markenklamotten der neuesten Mode, sind unterhaltungstechnisch auf dem jüngsten Stand und erhalten standesgemäß Tennis-Unterricht. Würden aber viel lieber einen so liebenswerten, toleranten, geerdeten („Sehn ich mich nach Abenteuern, brauch ich nicht auf Reisen gehn“) und für alles offenen Papa wie Jens haben als einen immer gestressten und nie für sie Zeit habenden Karrieristen, über den Oliver ätzt: „Der ist so spannend wie ein vertrockneter Müsli-Riegel“. Nicht zuletzt: Oliver und Pia sollen nach den Ferien in ein Internat abgeschoben werden.

Als mit Pia eine „Klassebraut“ in sein Leben tritt, ist Sonja, die nur zu gern überhaupt einen Vater hätte, abgemeldet bei Nico. Der sich bereits als kommender DSDS-Superstar sieht, nur weil ihm Olivers Papa eine Filmrolle angeboten hat – für immerhin 500 Euro. Es ist nur ein kleiner Werbespot für ein neues DVD-Fußballspiel, aber Nicos Phantasie geht ‘mal wieder mit ihm durch: Konzentration und Disziplin, in der Branche gefragt wie nichts sonst, sind seine Sache nicht. Weshalb der Drehtermin platzt. Nico fühlt sich als Versager und zieht sich verschämt zurück, wird aber bald von den drei Freunden wieder aufgerichtet – für arbeitsreiche, aber gemeinsame und deshalb wunderschöne Sommerferien auf dem Bauernhof von Oma Herder…

Kann man zu viel Phantasie haben? Wovon träumen Zehnjährige? Wie finden sie ihren Platz in der Welt? Wie bewerten sie ihre eigene Situation und die ihrer Eltern? Was wünschen sie sich für die Zukunft? Der Autor und Regisseur Thomas Ahrens, ein ehemaliges langjähriges Grips-Ensemblemitglied, hat sich für „Rosinen im Kopf“ die Lebenswelten der Viert- und Fünftklässler von heute angesehen und, basierend auf dem Grips-Stück „Der Spinner“ von 1983, ein neues Kinderstück für Menschen ab neun Jahren geschrieben, für das Volker Ludwig die Songs von Michael Brandt und Birger Heymann betextet hat. In der so einfachen wie wandlungsfähigen Ausstattung von Merle Vierck (Bühne) und Gisela Storch-Pestalozza (Kostüme) begeistert ein sechsköpfiges Ensemble über neunzig Minuten (im Theater plus Pause) mit der ganz ohne erhobenen Zeigefinger ‘rübergebrachten Botschaft, dass Geld längst nicht alles ist für ein glückliches Leben, welches übrigens auch in Patchwork-Familien möglich ist.

Samstag, 2. Mai 2020 | Quelle: Pitt Herrmann