
Tolle Bühnenfassung am WLT
Mofa-Roadmovie: 25 km/h
Regel 1: Die Reise beginnt am Brunnen des Marktplatzes von Löchingen und endet, wenn die Teilnehmer am Timmendorfer Strand in die Ostsee pinkeln. Regel 2: Die Reise muss auf dem Mofa gemacht werden. Regel 3ff: Die Teilnehmer verpflichten sich, während der Reise zu trinken, Drogen zu nehmen, Sex zu haben, eine Arschbombe vom Zehner zu machen, die gesamte Speisekarte bei einem Griechen auf einmal zu essen, nackt über die Autobahn zu fahren, eine schlafende Kuh umzustoßen und einen 20-Meter-Wheelie hangabwärts zu machen.
Nach 30 Jahren stehen sich die beiden so unterschiedlichen Brüder Georg (Guido Thurk) und Christian (Mario Thomanek) erstmals wieder gegenüber am Grab ihres Erzeugers. Georg, der Tischler geworden ist und seinen Vater bis zuletzt gepflegt hat, und der weitgereiste Top-Manager Christian, der nach Jahrzehnten in aller Welt aus Singapur erstmalig zurück in den heimatlichen Schwarzwald gekommen ist. Reichlich verspätet, weil die Taxifahrerin (Samira Hempel) geschlagene zwanzig Minuten an einer Bahnschranke ausharren musste, bevor ein Bummelzug passierte.

Die Brüder haben sich zunächst wenig zu sagen – und lassen lieber die Fäuste fliegen. Doch die Tischtennisplatte auf dem Dachboden samt alter Deutschland-Karte auf der Unterseite, reichlich Alkohol und die Reste vom Totenmahl, die Georgs Jugendliebe Tanja (Franziska Ferrari) vorbeibringt, sorgen für eine durchwachte Nacht. In der beide beschließen, sich endlich einen Jugendtraum zu verwirklichen und mit 25 Stundenkilometern quer durch die Republik zu fahren. Noch völlig betrunken holen sie Christians frisierten Chopper und Georgs altes Mofa, dessen verlängerte Sitzbank einst für „Tännle“ Tanja vorgesehen war, aus der Garage und brechen auf.
Eine solche Zuckel-Tour kann sich mit jeweils über 40 Lenzen auf dem Buckel rasch zur Tortur entwickeln. Doch schräge Bekanntschaften, etwa bei einem Weinfest im Badischen mit den beiden schmucken Dirndl-Freundinnen Ingrid und Ute oder beim esoterischen Wurzel-Festival in Paderborn mit der abgefahrenen Anhalterin Willie entschädigen für Regengüsse und Rückenschmerzen.
Der durch und durch bodenständige Georg, der seinen Bruder im Grunde nur deshalb beneidet hat, weil Christian der erklärte Lieblingssohn des Vaters gewesen ist, bedauert nur eines im Leben: dass er nicht den Mut aufgebracht hat, Tanja seine Liebe zu gestehen. Trost gibt’s von Letzterem, schließlich ist „Tännle“ unglücklich verheiratet. Die so ungleichen Brüder kommen immer besser miteinander ins Gespräch. Ob im Schwarzwälder Luxus-Resort oder nachts am Pool einer Villa in Gengenbach, ob am Lagerfeuer des Back-to-the-Roots-Festivals oder unter der Hochbahn der legendären Linie 1 in Kreuzberg: es geht um Vergangenheit und Gegenwart, um Gott und die Welt, kurz: um letzte Fragen.
Apropos Kreuzberg. Christian hat seinen 15-jährigen Sohn Konrad (Tobias Schwieger) noch nie gesehen und Georg drängt auf den „kleinen Umweg“ in die Hauptstadt, wo dieser zusammen mit seiner Mutter Lisa (Samira Hempel) lebt. Die kommt als promovierte Ärztin für Allgemeinmedizin ganz gut ohne ihren „Ex“ aus – und weil es der sonst so toughe Christian nicht fertigbringt, bei seinem Sprössling mit der Wahrheit herauszurücken, geht’s unverrichteter Dinge weiter gen Norden. Auf den letzten Kilometern droht zwar noch das vorzeitige Ende, weil die allzu selbstsicheren Brüder mehr als nur ein Tischtennis-Match gegen den auf Krawall gebürsteten Hantel (glänzt u.a. auch als Pfarrer: Mike Kühne) verlieren – und damit ihre fahrbaren Untersätze. Aber nach knapp zwei höchst unterhaltsamen Stunden am Westfälischen Landestheater sind alle Punkte der To-do-Liste aus seligen Kindertagen erfüllt. Mit einer Ausnahme: eine schlafende Kuh lässt sich nicht umstoßen.
Oliver Ziegenbalgs Drehbuch zu Markus Gollers turbulent-spannendem Roadmovie „25 km/h“, das 2018 mit dem Traumduo Lars Eidinger und Bjarne Mädel in unsere Kinos kam, hat Christian Scholze, Chefdramaturg des Westfälischen Landestheaters, für die Bühne adaptiert. In der so spartanischen wie effektvollen Ausstattung von Jeremias Vondrlik beglückt ein spielfreudiges sechsköpfiges Ensemble in der flotten, nicht zuletzt durch Hintergrund-Projektionen ungemein witzigen Inszenierung des WLT-Intendanten Ralf Ebeling. Der sich im Gegensatz zum wohl an die Sony-Rechte gebundenen Dramaturgen wunderbare (selbst-) ironische Freiheiten nehmen konnte, die hier natürlich nicht verraten werden. Auch wer zu den Fans des vielfach preisgekrönten Kinofilms gehört, wird an Ebelings Inszenierung und der enormen Bühnenpräsenz der WLT-Ensemblemitglieder seine Freude haben. Weitere Aufführungstermine u.a. am 21. März 2022 im Theater Marl und am 24. April 2022 in der Stadthalle Castrop-Rauxel, Karten unter westfaelisches-landestheater.de oder Tel. 02305 – 97 80 20.