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Aus neun Ländern stammen die Sechstklässler – und haben ganz offensichtlich Spaß in Herrn Bachmanns Obhut. Foto: Grandfilm

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Herr Bachmann und seine Klasse

Stadtallendorf ist, zumindest auf den ersten Blick, ein kleines, von Feldern umgebenes nordhessisches Fachwerkstädtchen. Es ist Winter und draußen noch dunkel, als in der Bäckerei eines bulgarischen Schülervaters längst Hochbetrieb herrscht und die Kinder den Bus zur Schule besteigen. Es sind Zwölf- bis Vierzehnjährige, welche die Eingangsstufe der Georg Büchner Gesamtschule besuchen, in der noch alle Leistungsstufen in einem Klassenverband vereint unterrichtet werden. Von Dieter Bachmann, der in Berlin erst Soziologie studiert hat, bevor er sich zum Brotberuf des Lehrers entschloss, um seine vierköpfige Familie zu ernähren. Und der nach 17-jährigem nervenaufreibenden, aber immer wieder auch beglückenden Klassenlehrer-Dasein nun mit 65 am Ende des Schuljahres in Pension gehen wird. Doch zuvor will der einstige Revoluzzer, Folksänger und Bildhauer seine Sechstklässler bestmöglich vorbereiten auf die zum Einstieg in die siebte Klasse geforderte Aufteilung in drei Schulzweige. Am Ende, das sei vorweggenommen, soll ein bemerkenswert großer Teil seiner Schützlinge zusammenbleiben im gymnasialen Zweig.

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Auch Jonglage gehört zum außergewöhnlichen Unterricht, den Herr Bachmann an der Gesamtschule Stadtallendorf gibt.

Auf den zweiten Blick ist Stadtallendorf Industriestandort: In großen Lagern untergebrachte Zwangsarbeiter aus ganz Europa schufteten während der Zweiten Weltkriegs in der größten Sprengstoffproduktionsstätte Europas. In den 1950er Jahren siedelten sich hier die Eisengießerei Fritz Winter und die Schokoladenfabrik Ferrero an mit heute zusammen mehr als 6.000 Beschäftigten, darunter in der Mehrzahl „Gastarbeiter“ aus Italien und Griechenland, seit Mitte der 1960er Jahre vor allem aus der Türkei. Aus neun Ländern stammen die Sechstklässler des von seinen beiden türkischstämmigen Kollegen Aynur Bal und Önder Cavdar unterstützten „Herrn“ Bachmann, der bei aller Coolness in Outfit und Auftreten nicht mit dem Vornamen angeredet werden möchte und stets auf Disziplin achtet. Was sich in gemeinschaftlichen Ritualen wie etwa einer Schweigeminute zum Unterrichtsschluss ausdrückt.

Schon ein Blick in den Klassenraum mit seiner Vielzahl an Musikinstrumenten und offenbar selbstgebautem Mobiliar offenbart, dass der empathische Motivationskünstler Bachmann großen Wert auf Kreativität setzt – und die alle sprachlichen und kulturellen Grenzen sprengende Kraft von Kunst und Musik. Einfache, anschauliche Übungen begleiten den Lehrstoff, es wird gemeinschaftlich gelesen, gebastelt und, für den Elternabend, bei dem sich übrigens kein einziger Vater zeigt, gebacken und gekocht. Immer wieder geht es um Fragen der Identität, um Familientradition und Zugehörigkeit, letztlich um den Heimat-Begriff. Dieter Bachmann erzählt viel aus seinem bewegten Leben und dem seiner Vorfahren mit innerdeutscher Migrationsgeschichte. Und Aynur Bal, vor 35 Jahren in Deutschland geboren, fühlt sich herausgefordert, hartnäckigen Vorurteilen muslimischer Kinder entgegenzutreten.

Herr Bachmann fördert den Gemeinschaftsgeist, indem er immer wieder gute Schüler animiert, Schwächeren zu helfen, etwa beim Lernen von Englisch-Vokabeln oder in Mathematik. Vor allem aber ist er um die mentale Stärke seiner Schützlinge bemüht, die teilweise ohne deutsche Sprachkenntnisse scheinbar hoffnungslos zurückliegen und am Ende doch die Kurve kriegen. Dabei geht es auch um Auseinandersetzungen mit Eltern, die als Zugvögel quer durch Europa verhindern, dass ihre Kinder irgendwo Wurzeln schlagen können. Nach dem mehrtägigen Klassenausflug zum Pferdehof „Blaues Lenchen“ samt vorbildlicher Konfliktlösung innerhalb der Gruppe zeigen sich die Heranwachsenden gestärkt für die Herausforderungen der Zukunft: Jeder ist in diesem Jahr gereift, hat sich bewährt, stellt etwas dar mit individuellen Fähigkeiten oder sozialer Kompetenz. Wenn es doch überall solche Persönlichkeiten wie Dieter Bachmann gäbe!

Dieter Bachmann im Grandfilm-Presseheft: „Ich habe mich schon oft gefragt, wie mir das passiert ist, Lehrer zu werden. Ich glaube, die Schüler der Georg Büchner Gesamtschule in Stadtallendorf haben mir unmissverständlich gezeigt, was für einen Lehrer sie haben wollen: einen, der ihnen Äpfel und Müsli und Döner zu essen gibt, einen, der mit ihnen Fußball spielt, Musik macht und malt und Geschichten erfindet und schreibt, einen, der mit ihnen liest, wie die Welt so aussieht und was es zu entdecken gibt, einen, den sie fragen können, was immer sie wollen, aber vor allem einen, der sie nicht abwertet mit Noten, Defiziten. Sie wollen einen Lehrer, der auch gerne in die Schule kommt, mit dem sie lachen und singen und schreien können, einen, der ihnen auch mal sagt, wo es lang geht, wenn die Fäuste geflogen sind und wenn Schwule oder Behinderte beschimpft werden. Im Kern ist es also eine ganz normale Beziehung zwischen Kindern oder Jugendlichen und einem Erwachsenen im Spiegel von: ich trau dir das zu, das machst du besser nicht, hier geht es auf keinen Fall lang, aber ich vertraue dir, ich weiß, du hast es drauf, ich find dich gut.“

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„Herr Bachmann und seine Klasse“ wurde am 1. März 2021 im Wettbewerb der 71. Berlinale uraufgeführt, pandemiebedingt im „Industry Event“, und von der Jury mit dem „Silbernen Bären“ ausgezeichnet. Nach der Premiere beim Summer Special der Berlinale am 17. Juni 2021 im Freilichtkino der Museumsinsel gabs den Publikumspreis, dem der „Firebird Award“ beim Int. Filmfestival Hongkong 2021 folgte. Am 16. September 2021 kommt die mit 217 Minuten überlange, aber nie langweilige Dokumentation von Maria Speth und Kameramann Reinhold Vorschneider in die deutschen Kinos, bei uns zu sehen im Metropolis Bochum, in der Lichtburg Essen sowie im Bambi Düsseldorf.

| Quelle: Pitt Herrmann