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Gelegenheit macht Diebe

Am 19. Juni 2017 habe ich im WDR-Fernsehen eine Sendung gesehen: Operieren und Kassieren – Ein Klinik-Daten-Krimi - Der Wohnort macht den Unterschied. Darin wurde sehr eindrucksvoll dargelegt, dass es Regionen in Deutschland gibt, in denen exorbitant häufiger ganz spezielle Operationen durchgeführt werden als im Bundesdurchschnitt.

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Explizit wurden Eingriffe an der Wirbelsäule im Zeitraum 2013 – 2015 in der Region Fulda untersucht. Mit 2710 Operationen pro 100.000 Einwohnern wurde dort drei Mal so häufig operiert, wie im Bundesdurchschnitt (986/100 Tsd. EW). Für Herne wurde ein Wert von 1.927 Operationen/100 Tsd. EW ermittelt. Damit liegen wir bundesweit an sechster Stelle von rund 800 Regionen. Die seltensten Eingriffe mit circa 450 Operationen/100Tsd. EW fanden in etlichen Kreisen Ostdeutschlands statt.

Daraus lässt sich zweierlei schließen: Einerseits gibt es Krankenhäuser und Ärzte, die möglicherweise aus wirtschaftlichem Interesse unnötige Operationen durchführen. Wenn es andrerseits Regionen gibt, in denen die Zahl der Operationen bei weniger als der Hälfte des Bundesdurchschnitts liegt, steht zu befürchten, dass hier oft zu spät oder gar nicht operiert wird, weil keine Einrichtungen zur Verfügung stehen, die derartige Eingriffe durchführen können. Dann kann es passieren, dass Lähmungserscheinungen nicht mehr zu heilen oder dass Schmerzen bereits chronifiziert sind.

Der Gedanke, dass man Menschen aus wirtschaftlichem Interesse unnötige, aber potentiell lebensgefährliche Operationen aufschwatzt, ist für mich schwer zu ertragen. Ebenso unerträglich finde ich es, wenn in einem Gesundheitswesen, in dem der Überfluss der Regelfall ist, notwendige Eingriffe nicht durchgeführt werden können, weil in manchen Regionen die Mittel für notwendige Investitionen in die Klinik-Infrastruktur nicht zur Verfügung gestellt werden.

Im Falle der Neurochirurgie hat sich zudem eine Besonderheit entwickelt: Einerseits haben die Kliniken im Laufe der Jahre viele Neurochirurgen ausgebildet, die nicht alle in der Klinik weiterbeschäftigt werden können und sich demzufolge in eigener Praxis niedergelassen haben. Die Operationen, die sie gelernt haben, sind sehr komplex und lassen sich zumeist nicht ambulant in der Praxis durchführen. Wenn in einem Krankenhaus ein eigenes Team operiert, hätten die niedergelassenen Ärzte keinen wirtschaftlichen Anreiz, Patienten stationär zu Operation einzuweisen. Also haben etliche Krankenhäuser darauf verzichtet, ein eigenes neurochirurgisches Operationsteam aufzubauen und beauftragen stattdessen die niedergelassenen Neurochirurgen als Konsiliarärzte. Diese operieren dann die Patienten, die sie selbst eingewiesen haben und erhalten dafür einen großen Anteil des Krankenhaushonorars. Es ist klar, dass dadurch ein beträchtlicher Anreiz besteht, die Indikation zur Operation großzügig zu stellen.

Die Quintessenz der Sendung allerdings, ausschließlich die Gier der Ärzte für diese Entwicklung verantwortlich zu machen, ist wesentlich zu kurz gedacht. In einem privatwirtschaftlich organisierten Gesundheitsmarkt sind Krankenhäuser wie Arztpraxen auf Gewinn ausgerichtete Unternehmen. Welchen Grund sollten sie haben, den durch keinerlei individuelle wirtschaftliche Verantwortung behinderten Konsumrausch im Gesundheitswesen zu bremsen. Unser Wirtschaftssystem lebt davon, dass jedes Unternehmen die Chancen, die ihm der Markt bietet, optimal nutzt. Ethische Aspekte stehen da leicht in Konkurrenz zu wirtschaftlichen Interessen. Man nenne mir die Tankstelle, die einem Kunden die Tankfüllung versagt, weil er zu viel oder zu schnell gefahren sei. Genauso wird sich kaum eine Tankstelle weitab vom Durchgangsverkehr ansiedeln, nur weil man die arme Landbevölkerung nicht im Stich lassen dürfe.

Die Kliniken, in denen derart hochkomplexe Operationen durchgeführt werden können, sind von der Politik gefördert, wenn nicht gar initiiert worden, weil sie die wirtschaftliche Entwicklung in den Regionen voran treiben. Zur Information: Klinik-Investitionen, die vom jeweiligen Land nicht gefördert werden, können mit den gesetzlichen Krankenkassen nicht abgerechnet werden. Ich behaupte, es existiert in Deutschland kein Krankenhaus, das nicht politisch gewollt ist.

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Der Gesundheitsmarkt erlebt in Deutschland vor allem durch die Existenz der gesetzlichen Krankenversicherung einen seit Jahrzehnten anhaltenden Boom. Deren Einnahmen fließen praktisch ungebremst in den wirtschaftlichen Kreislauf zurück - in Zeiten der Hochkonjunktur ebenso, wie in der Flaute. Solange man, von den Medien unwidersprochen, die Fehlentwicklungen dieses Marktes ausschließlich den Ärzten zur Last legen kann, hat kein Politiker irgendein Interesse, diesen hochdrehenden Motor zu bremsen. Dennoch haben sie die Gelegenheiten geschaffen, in denen sich die Diebe ungestört bereichern können.

| Autor: Dr. Gerd Dunkhase von Hinckeldey