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Piotr Procheras Frankenstein und seine Kreatur.

Schau-Spiel mit Puppe und Musik

Frankenstein in Gelsenkirchen

Unheilschwangerer Beginn der Spielzeit 2019/20 am Musiktheater im Revier in Gelsenkirchen: Der Eiserne Vorhang, der Bühne und Orchestergraben vom Parkett trennt, um beim Ausbruch eines Feuers im wahren Wortsinn die Funken nicht über die Rampe springen zu lassen, ist heruntergelassen. Zusätzlich sorgt Thomas Ratzingers ausgefeilte Lichtregie für eine vermeintliche Verengung des Zuschauerraums: die seitlichen Balkone scheinen sich entgegenzukommen. Kein Wunder: auf dem Spielplan steht die Oper „Frankenstein“.

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Berührend: Bele Kumberger als Elisabeth Delacey.

Doch der junge Hamburger Komponist Jan Dvorak hat sich in seiner Textfassung an Mary Shelleys schauerlichem früh-viktorianischem Erziehungsroman Frankenstein or The Modern Prometheus von 1818 orientiert und nicht an den klassischen Horrorstreifen der expressionistischen 1920er und 1930er Jahre noch gar an den späteren Splatter-Movies. So steht nicht der Titelheld, der ehrgeizige Wissenschaftler Viktor Frankenstein (Piotr Prochera) im Mittelpunkt, der einen künstlichen Über-Menschen erschaffen will, sondern das hier unsinnigerweise Monster genannte Opfer (die erst 21-jährige Shelley spricht dagegen von Kreatur bzw. Dämon), das starke Gefühle für seinen Schöpfer entwickelt und erst, nachdem ihm statt Liebe nur Ablehnung und Hass entgegengebracht wird, den Menschen grausame Rache schwört.

Ursprünglich als Schauspiel für das Theater Basel konzipiert, wurde Frankenstein im Juni 2018 als Auftragswerk der Staatsoper Hamburg auf Kampnagel, dem alternativen Kulturzentrum der Hansestadt, uraufgeführt. In der vom Komponisten revidierten Fassung konnte am 28. September 2019 im Großen Haus die eigentliche Erst-Aufführung eines Schau-Spiels mit Puppe und Musik gefeiert werden, bei dem die Gattungsbezeichnung Oper allzu hochgegriffen erscheint. Was sich zu Beginn des 165-minütigen Abends noch vielversprechend als Musical mit drei im übrigen erstaunlich sicher singenden Puppenspielerinnen (Evi Arnsbjerg Brygmann, Bianka Drozdik und Eileen von Hoyningen-Huene von der Berliner Ernst Busch Hochschule) anlässt, verflacht mit zwei allerdings sehr gefühlvoll-ariosen Ausnahmen nach der Pause (Pjotr Prochera und, als Viktors Verlobte Elisabeth Delacey, insbesondere Bele Kumberger) immer stärker zu einem an Rezitativen überreichen eklektischen Filmmusik-Teppich, da kann sich Giuliano Betta am Pult der Neuen Philharmonie Westfalen noch so sehr ins Zeug legen.

Regisseur Sebastian Schwab lässt in Britta Tönnes Bühne, einem Anatomischem Theater, wie es noch an der Berliner Humboldt-Universität besichtigt werden kann, die von den Puppenspielerinnen geführte Kreatur zunächst als Ich-Erzähler auftreten. Ein dramaturgischer Kunstgriff, der aus dem einstigen furchteinflößenden Film-Monster Boris Karloffs ein armes, missgestaltetes Geschöpf macht, dem das Publikum Empathie entgegenbringt. Das Peer-Gynt-mäßig ausschweifende Stationendrama in 16 Bildern, mehr Erzählung als Gesang, lebt von der fappierenden Lebendigkeit der überlebensgroßen Puppe. Eine hierzulande freilich nicht neue Erfahrung: Seit fünf Jahren der Intendanz Stefan Bachmanns am Schauspiel Köln inszeniert der Ernst-Busch-Absolvent Moritz Sostmann das trotz offenbarem Making of nahtlose Ineinandergreifen von Puppen- und Schauspiel.

Sebastian Schwab, zuletzt Ruß und Klein Zaches sowie seit vielen Jahren Move! am MiR, zieht in seiner ersten Operninszenierung alle theatralischen Register von Feuer über Seifenblasen-Schnee und Neonröhren-Holzscheite bis hin zur Windmaschine, um alle Sinne des Publikums über gut zweieineinhalb Stunden zu reizen. Die Dramatik des zum Glück falschen Feueralarms in der Pause des Premierenabends hat aber auch er nicht erreichen können.

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Anlässlich der Frankenstein-Produktion wird im Foyer des Großen Hauses die Ausstellung Puppet Masters des Studiengangs Zeitgenössische Puppenspielkunst der Ernst Busch Hochschule Berlin gezeigt, ein künstlerisches Fotoprojekt in enger Zusammenarbeit mit Benita Suchodrev. In großformatigen Porträts von Studierenden wird der visuelle und materielle Dialog zwischen den Dingen und ihren Meistern thematisiert. In „improvisierten Inszenierungen“ hält die Berliner Fotografin den Moment des Suchens nach einem individuellen Ausdrucksmittel fotografisch fest und offenbart zugleich die wandelbaren Facetten der Identität der Puppenspieler.

| Autor: Pitt Herrmann