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Beste Freunde: Mario Thomanek und Franziska Ferrari.

Deutschsprachige Erstaufführung im Westfälischen Landestheater

Drachenläufer in Castrop Rauxel

Kabul, Mitte der 1970er Jahre. Nach vier Jahrzehnten Monarchie hat Afghanistan nun eine republikanische Verfassung. Amir (Franziska Ferrari) und Hassan (Mario Thomanek) sind wie Brüder aufgewachsen. Als die ersten Schneeflocken fallen, steigen am Himmel über der Hauptstadt die Drachen eines vergnüglichen, von den Beteiligten aber durchaus ernst genommenen Flugwettbewerbs, auf. Beim traditionsreichen „Drachenjagen“ gilt es nicht nur, mit dem eigenen Drachen die Leinen der Konkurrenten zu kappen, sondern nach Möglichkeit den vom Himmel gefallenen Drachen als eigene Trophäe zu ergattern, im wahren Wortsinn zu erlaufen.

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Ein solcher Drachenläufer ist Hassan, der für Amir auf flinken Beinen unterwegs ist, um dessen Trophäensammlung zu mehren. Dabei könnten die beiden unzertrennlichen Jungen nicht unterschiedlicher sein, was ihre Herkunft betrifft: Amir ist Paschtune, Hassan gehört der geächteten Minderheit der Hazara an. Auch bezüglich ihrer Religionszugehörigkeit: Amir ist Sunnit, Hassan Schiit. Und nicht zuletzt klafft ihr Bildungsstand weit auseinander, denn Hassan ist der Sohn eines Bediensteten von Amirs Baba (reichlich egozentrisch: ein ständig aufgedrehter Guido Thurk).

Doch dann lässt Amir seinen Freund in einer schweren Notlage im Stich, aus reiner Feigheit: Hassan wird von Assef (Mike Kühne), dem beim Drachenjagen ständig Unterlegenen, und zwei weiteren älteren, stärkeren Halbwüchsigen aus scheinbar religiösen und ethnischen Gründen, in Wahrheit jedoch aus reiner Eifersucht erst gedemütigt und dann brutal vergewaltigt. Was das abrupte Ende ihrer Freundschaft nach sich zieht: Amir mag sich aus Scham selbst nicht mehr in die Augen schauen und entwickelt einen Selbsthass, der sich in geradezu heimtückischer Boshaftigkeit gegen den völlig unschuldigen, über die Ereignisse schweigenden Hassan richtet. Und in der Lüge gipfelt, dieser habe seine goldene Uhr gestohlen.

I like to be in America (v.l.): Tobias Schwieger, Svenja Marija Topler, Franziska Ferrari, Oliver El-Fayoumy und Guido Thurk.

Nach dem Militärputsch der Kommunisten marschiert 1979 die sowjetische Armee ein. Amir flieht mit seinem Baba nach Pakistan, wo sie zwei Jahre auf das Visum für die USA warten müssen. Von seinem Vater im kalifornischen Freemont aufopferungsvoll großgezogen, gelingt Amir 1983 der High School Abschluss. Sein Glück scheint vollkommen, als er mit Soraya (Svenja Marija Topler) die Tochter des in Exilkreisen angesehenen Generals Taheri (Vesna Buljevic) der früheren afghanischen Armee heiratet. Hassan dagegen lebt weiterhin in Afghanistan und damit in einem Land, das in russischer Besetzung, blutigen Bürgerkriegen und schließlich in der Schreckensherrschaft der Taliban versinkt: Er ist völlig aus dem Blickfeld Amirs verschwunden.

San Francisco, 1989. Fünf Jahre nach Babas Tod erscheint Amirs erster Roman. Und Gattin Soraya, die aus medizinischen Gründen kein eigenes Kind bekommen kann, denkt über eine Adoption nach. Im Juni 2001 ruft mit Rahim Khan (Burghard Braun) ein Geistlicher, den er noch aus der Kindheit in Kabul kennt, aus Pakistan an und bittet Amir um Hilfe. Nach zwanzig Jahren soll er heimlich in seine afghanische Heimat zurückkehren und damit in ein Land, in dem das Mullah-Regime sofort nach der Machtübernahme den Volkssport des Drachenfliegens verboten hat. Bei dem Versuch, Hassans Sohn Sohrab aus einem Waisenhaus nach Amerika zu holen, stößt Amir ausgerechnet auf Assef …

„Drachenläufer“, Khaled Hosseinis Romanerstling von 2003, ist weltweit zu einem der erfolgreichsten Bücher unseres Jahrhunderts geworden. Auch seine Verfilmung durch den in Illertissen bei Ulm geborenen und in den USA lebenden Regisseur Marc Forster wurde nach seiner Uraufführung 2007 auf dem Scottsdale Int. Filmfestival in den USA ein globaler Blockbuster. Für WLT-Dramaturg Christian Scholze keine Überraschung: „‘Drachenläufer‘ ist eine zeitlose Geschichte, die elementar menschliche und existenzielle Fragen behandelt. Die Themen, die verhandelt werden, wie Verbundenheit, Schuld und Familie, sind universell. Es ist eine zutiefst menschliche Geschichte.“ Umso erstaunlicher, dass die Bühnenadaption von Matthew Spangler, obwohl bei den San Francisco Bay Area Theatre Critic‘ Circle Awards gleich fünffach preisgekrönt, nach der Uraufführung im März 2009 im San Jose Repertory Theatre hierzulande ohne Echo blieb. So gelang dem Westfälischen Landestheater zehn Jahre später mit der Deutschsprachigen Erstaufführung am 30. November 2019 in der ausverkauften Stadthalle Castrop-Rauxel ein vielbeachteter, nach gut zwei Stunden in Ovationsstärke gefeierter Triumph, welcher die Dramaturgien unserer vergleichsweise hochsubventionierten Staats- und Stadttheater ganz alt aussehen lässt.

Zusammen mit seiner langjährigen Ausstatterin Elke König, deren karge und dennoch so effektvolle Bühne sich auf teiltransparente sandfarbene Wände beschränkt, geht Regisseur Gert Becker (u.a. „Er ist wieder da“ und „Unterwerfung“ am WLT) einen eigenen Weg in der Umsetzung der ganz nah am Roman bleibenden Bühnenfassung: Anders als auf der Kinoleinwand erschließt sich die Geschichte aus der Sicht des erwachsenen Amir nicht in Rückblenden. Oliver S. El-Fayoumy ist im ersten Teil vor der Pause alles andere als ein distanzierter, über den Dingen schwebender Erzähler: Er durchlebt wie sein junges, von der enorm spielfreudigen Franziska Ferrari verkörpertes Alter Ego – und letztlich auch wie das Publikum – ein Wechselbad der Gefühle mit enormen Ausschlägen auf der Skala der Emotionen. Im zweiten, in den USA spielenden Teil, der mit Leonard Bernsteins „America“-Hymne aus seiner „West Side Story“ eingeleitet wird (Musik: Tankred Schleinschock), verschmilzt der zu Recht vom Publikum gefeierte Gast aus Düsseldorf, der u.a. schon bei den Ruhrfestspielen und im Gelsenkirchener Musiktheater im Revier auf den Brettern überzeugte, endgültig mit der Rolle des erwachsenen Amir, einem Meister der Verdrängung.

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Gert Beckers zweiter Geniestreich ist das Schattenspiel. Er setzt dieses alte, genuine theatralische Mittel nicht nur als Video-Ersatz zur szenischen Bebilderung des naturgemäß großen erzählerischen Teils ein, sondern bei besonders heiklen Szenen wie der Vergewaltigung Hassans als Verfremdung. Welche die Brutalität der Tat im Auge des Betrachters eher noch verstärkt, wie die atemlose Stille in der bis auf den letzten Platz gefüllten Stadthalle belegt. Das Live-Erlebnis Theater schlägt noch mit einfachsten, den unterschiedlichen Gegebenheiten der Gastspiel-Orte geschuldeten Mitteln den Hightech-Aufwand großer Kinoproduktionen. Wieder zu erleben am 20. und 21. Januar 2020 jeweils um 20 Uhr im WLT-Studio.

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  • Montag, 20. Januar 2020, um 20 Uhr
  • Dienstag, 21. Januar 2020, um 20 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann