
Neu im Kino
Der Dolmetscher
Ein wenig bekanntes Kapitel der Geschichte des 20. Jahrhunderts, die Kollaboration von Tschechoslowaken mit den Deutschen bei der industriellen Vernichtung der Juden während des Zweiten Weltkriegs, ist Thema des auf der 68. Berlinale 2018 uraufgeführten Films Der Dolmetscher, der ab Donnerstag, 29. November 2018, im Kino Endstation des Kulturbahnhofs Bochum-Langendreer läuft. Er stellt ein bemerkenswertes Gipfeltreffen europäischer Künstler dar. Regisseur Martin Sulik (Der Garten) ist der bekannteste slowakische Filmemacher, der auch für sein Land ins Oscar-Rennen ging. Der österreichische Schauspieler Peter Simonischek wurde für seine Leistung in Toni Erdmann unter anderem mit dem Europäischen Filmpreis ausgezeichnet. Und sein filmischer Gegenpart Jiri Menzel, der gleich für sein Regiedebüt Liebe nach Fahrplan 1966 den Oscar gewann, hat von 1976-1980 als Hausregisseur am Schauspielhaus Bochum gearbeitet, unvergesslich seine Inszenierungen wie Lysistrate, Die Dame mit dem Hündchen oder Die Kunst der Komödie.
Menzel spielt den in der slowakischen Hauptstadt Bratislava lebenden Dolmetscher Ali Ungar, der nach Wien reist, um den mutmaßlichen Mörder seiner Eltern, die im Holocaust getötet wurden, zur Rede zu stellen. Doch statt des ehemaligen SS-Offiziers Kurt Graubner findet er nur dessen Sohn, den pensionierten Englisch- und Französischlehrer Georg (Peter Simonischek) vor, der ihm erklärt, sein Vater sei bereits verstorben. Georg, den mit seiner Haushälterin Jola (Anita Szvrcsek) mehr verbindet, als er eingesteht, ist ein dreimal verheiratet gewesener Schwerenöter und Bonvivant, der das Leben in vollen Zügen genießt – und damit das genaue Gegenteil des ernsthaften und grüblerischen Ali. Der Achtzigjährige scheint sich zu genieren, dass ausgerechnet er den Holocaust überlebt hat und verlässt daher kaum einmal das Haus.
Zuerst abweisend, beginnt der Österreicher in dem unerwarteten Besuch eine Chance zu sehen, den dunklen Fleck in seiner Familiengeschichte endlich aufzuarbeiten. Mit Engelszungen überredet er Ali, ihn für 100 Euro am Tag als Fremdenführer und Übersetzer auf einer Forschungsreise durch die Slowakei zu begleiten. Zusammen wollen sie die wenigen noch lebenden Zeitzeugen und ihre Nachkommen aufstöbern, die ihnen etwas über dieses dunkle Kapitel in der Vergangenheit von Georgs Vater erzählen können.
Antisemitisches Schwein versus Zionistischer Übermensch: Durch ihre konträren Ansichten und Erfahrungen kommt es zwischen den beiden so ungleichen Alten häufig zu verbalen, mit einiger Härte ausgetragenen Spannungen, denen aber immer wieder komische und letztlich versöhnliche Momente folgen. Ihre Tour durch die heutige Slowakei wird für beide zu einem Ausflug in die eigene Vergangenheit und sie stellen fest, dass die Konflikte, über die sie ein Leben lang geschwiegen haben, hier ihren Anfang nahmen.
Alis Eltern haben ihn christlich taufen lassen, damit er sich in einem Kloster vor den Nazis verbergen kann. Und dasselbe Massaker, das Ali zum Vollwaisen werden ließ, machte Georg für immer zum Sohn eines Kriegsverbrechers. Sie blicken aus unterschiedlichen Perspektiven auf dieselben Geschehnisse, aber nähern sich in intimen Gesprächen den Erfahrungen des jeweils anderen an. So liest Ali Briefe und Zeichnungen von Georgs Vater Kurt, die ein anderes Bild als das des skrupellosen Totenkopf-Trägers zeigen.
Auf ihrer Reise treffen sie unterschiedlichste Menschen aus verschiedenen Milieus und stark voneinander abweichenden Meinungen. Mit den munter-unbeschwerten Frauen Truda (Anna Rakovska) und Berta (Eva Kramerova) etwa geht es nach Teplice, während Alis Tochter Edita (Zuzana Maurery) beim Besuch der beiden wenig erfreut ist über Georg: es gehöre sich nicht für ein Kind der Opfer, sich mit einem Kind der Täter einzulassen oder gar zu befreunden. Auch wenn Ali das Wort Freundschaft weit von sich weisen würde: der kauzige alte Mann lässt sich von niemandem etwas vorschreiben, auch von seiner Tochter nicht.
Schritt für Schritt setzt sich so ein Mosaik aus Einzelschicksalen zusammen, die das Bild eines Landes ergeben, das nach der Trennung von Tschechien zwar gerade einen dynamischen Modernisierungs-Prozess innerhalb der Europäischen Union durchläuft, aber weiter von den ungelösten Konflikten aus der Vergangenheit beeinflusst wird. In einem Altenheim kommt es zu einer Begegnung mit einem slowakischen Kollaborateur, die Ali filmt und später Georg als DVD mitgibt.
Herr Graubner und Herr Ungar, wie sich die beiden höflich ansprechen, pendeln in ihren Gefühlen füreinander zwischen unausgesprochener Sympathie und starkem Befremden. Georg ist ein Hedonist im Ruhestand, Ali ein nur geringfügig älterer, wortkarger Stoiker. Beide sind in vollkommen unterschiedlichen Ländern und Milieus aufgewachsen. Da ihre Marotten und Schrulligkeiten häufig in einen komischen Culture Clash münden, ist das Road Movie trotz des ernsten Themas auch eine charmante Komödie über ein kauziges Männerpaar. Und zwar vor dem Hintergrund, dass über die eigene Beteiligung am Holocaust in der Slowakei wie übrigens auch in Tschechien lange geschwiegen wurde. Ähnlich wie in Österreich, das sich lange Zeit nicht mit der Täterrolle abfinden konnte trotz der bekannten Heldenplatz-Szenen nach dem Anschluss der Heimat Adolf Hitlers ans Tausendjährige Reich, ist erst in den letzten zwei Jahrzehnten eine selbstkritische Erinnerungskultur in Gang gekommen.
Bis heute ist die Geschichte der slowakischen Juden zur Zeit der Verfolgungen und Deportationen noch immer nicht vollständig aufgearbeitet worden. Mit seinem Film, dessen überraschender Schluss, bei dem besagte DVD eine zentrale Rolle spielt, hier nicht verraten wird, geht es Regisseur Martin Sulik auch um die Dringlichkeit, das Versäumte rasch nachzuholen, bevor alle Zeitzeugen gestorben sind. Er rückt die verdrängten Kapitel aus der Vergangenheit seines Heimatlandes in den Mittelpunkt. Und streicht heraus, wie stark die Kriegs- und Nachkriegsgeneration in ihren späteren Entscheidungen von der Nazi-Zeit geprägt blieb.