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Leila Bekhti und Fabrice Luchini mit Hündin Sam.

Preview beim Lichtburg Open Air in Essen

Das zweite Leben des Monsieur Alain

Um 5:31 Uhr geht der Radiowecker an. Alain Wapler (Fabrice Luchini, Das Schmuckstück) fällt förmlich aus dem Bett, kann kaum seinen linken Arm bewegen. Aber der viel beschäftigte Pariser Top-Manager in der Kraftfahrzeugindustrie und Entwickler einer neuen vollelektronischen Limousine, die auf dem Genfer Automobilsalon der Weltöffentlichkeit vorgestellt werden soll, beißt die Zähne zusammen. Mühsam kleidet er sich an, begrüßt kurz seine Haushälterin und Köchin Violette (Clemence Massart-Weit), die ihr Transistorradio 'mal wieder voll aufgedreht hat – und fällt auch noch auf der Treppe, sodass er von seinem Fahrer Sam (Gus) aufgelesen werden muss.

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Der typische Workaholic aus der Top-Etage, der die Titelseiten bekannter französischer Politik- und Wirtschaftsmagazine ziert und auch noch als Dozent tätig ist, hat in seinem Leben keinen Platz für Freizeit oder gar Familie. Speziell für seine noch studierende Tochter Julia Pasquier (Rebecca Marder), die den Namen ihrer geschiedenen Mutter angenommen hat. Weil sie seit zwei Wochen kein Lebenszeichen mehr von ihrem stets der Zeit hinterher rennenden Vater vernommen hat, sucht sie ihn in seinem Büro auf. Für ein Gespräch mit dem Konzern-CEO muss sie freilich zu ihm in den Fond des Dienstwagens steigen – und auch dort hängt Alain noch ständig am Handy.

Alain fühlt sich obenauf. Seinem Chef Eric (Yves Jacques) legt er schon 'mal sein Kündigungsschreiben vor, verbunden mit einer kleinen Erpressung: Nur wenn seine Entwicklung LX2 in einer vollelektronischen Version im Zentrum der Genfer Konzernpräsentation steht, und damit als Entwickler er selbst, ist er bereit, das Schreiben zu zerreißen. „Wir verkaufen nicht Träume, sondern Autos“: Eric würde lieber erst die Hybrid-Version vorstellen, gibt seinem Hauptgeschäftsführer aber nach. Der sich beruflich so fortschrittlich gebende Alain ist privat eher nostalgisch veranlagt: Frank Sinatras As Time Goes By, kleine Verbeugung des Regisseurs Herve Mimran an Casablanca, läuft noch ganz konventionell auf dem Plattenteller.

Als Alain eines Nachmittags auf dem Boden liegend in seinem Büro vorgefunden wird, verweigert er eine ärztliche Konsultation, lässt sich lieber von Sam zum nächsten Termin fahren. Als dieser am Arc de Triomphe hält, weil Alain sich übergeben muss, schaltet der Chauffeur schnell und fährt zum nächsten Krankenhaus. So wird Sam zum Lebensretter – und Julia zur aufopferungsvoll pflegenden Tochter eines Schlaganfallpatienten, der an starken Sprach- und Gedächtnisstörungen leidet. Und der dem Klinik-Pfleger Vincent Houbloup (Igor Gotesman) zunächst gar nicht glaubt, dass er die vergangenen drei Tage lang bewusstlos im Hopital universitaire Pitie-Salpetriere gelegen hat.

Alain spricht nur wirres Zeug, was er erst mitbekommt, als Julia ihm sein auf dem Smartphone aufgenommenes Gerede vorspielt. Vincent, ein erfindungsreicher Spaßvogel, wenn er Jeanne Tournio (Leila Bekhti, gerade auch mit Ein Becken voller Männer in unseren Kinos) nachstellt, schildert der jungen Logopädin den Fall seines prominenten Patienten, dem er alle Journalisten vom Hals halten soll. Die hat gerade ihre Adoptiveltern aus der Provinz, Annie (Evelyne Didi) und Claude (Ronald Auffredou), zu Gast und eigentlich weder Lust noch Zeit, zumal sie seit geraumer Zeit auf der Suche nach ihren leiblichen Eltern ist. Schließlich lässt sie sich aber doch erweichen: Alain habe durch den Schlaganfall einige das Sprach- und Erinnerungszentrum betreffende Hirnfunktionen verloren und es sei ein langwieriger Prozess der stationären Behandlung.

Auf die sich Alain, der sogleich wieder beruflich einsteigen will, da der Genfer Automobilsalon vor der Tür steht, aber nicht einlassen will – und sich gegen ärztlichen Rat selbst entlässt. Jeanne bleibt hart: Hausbesuche kommen für sie nicht in Frage. Aber sie ist bereit, sich zu bestimmten Zeiten auf neutralem Boden mit Alain zu treffen – schließlich stammen beide aus Besancon. Geradezu spielerisch bei Besuchen im Zoologischen oder dem Botanischen Garten lernt Alain Stück für Stück, mit dem Alltag besser zurechtzukommen. Sodass er sogar Eric überreden kann, in Genf sein neues Auto selbst vorzustellen – mit Jeanne stets an seiner Seite. Das wars dann aber: „Wir können uns keinen Behinderten als Firmenchef leisten“ verkündet Eric und wirft Alain im wahren Wortsinn vor die Tür. Und Sam gleich mit, weil dieser seinen langjährigen Chef noch einmal im Firmenwagen nach Hause chauffiert hat entgegen Erics Weisungen. Der mit Igor Dupray (Micha Lescot) einen Jungdynamiker auf Alains Stuhl setzt, auf den dieser schon lange scharf war.

Alain, dem man auf dem Arbeitsamt nur ein mitleidiges Lächeln schenkte verbunden mit dem Rat, sich in logopädische Behandlung zu begeben, sitzt verlassen in einem Cafe oder irrt mit Hündin Sam durch die Straßen seines Arrondissements. Er bekommt von seiner Tochter ein kleines Büchlein mit Adressen, Telefonnummern und Stadtplan – falls er 'mal wieder die Orientierung verliert. Wie auf dem Weg zu seinem vielleicht wichtigsten Termin, der mündlichen Prüfung seiner Tochter an der Universität. Ohne seine Anwesenheit im Hörsaal bringt die völlig blockierte Julia kein Wort heraus – und entlässt voller zorniger Enttäuschung Alain allein auf die dreiwöchige Pilgerwanderung nach Santiago di Compostela. Auf dem Camino findet er rasch Anschluss – und hat dann bald auch Julia an seiner Seite, die vom Kellner (Jean-Pascal Zadi) des Cafes das von Alain dort liegen gelassene Büchlein erhalten hat...

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Un homme presse ist der Originaltitel des am 28. September 2018 beim Festival in Montpellier uraufgeführten einhundertminütigen Dramas Das zweite Leben des Monsieur Alain von Helene Fillieres (Buch) und Herve Mimran (Buch und Regie). Es basiert auf der 2014 in Paris erschienenen Autobiografie J'étais un homme presse des heute 64-jährigen Ex-Konzernmanagers Christian Streiff (unter anderem Airbus und PSA Peugeot Citroen), der viele Jahre in ganz unterschiedlichen Branchen auch in Deutschland gearbeitet hat. Bei den 35. Französischen Filmtagen Tübingen/Stuttgart im November 2018 mit dem Publikumspreis ausgezeichnet lebt der um einiges zu lange, sich in Nebenhandlungen verzettelnde Film vor allem von der Authentizität des schon sehr nachdenklich stimmenden Geschehens, das im Gegensatz zur Rubrizierung einschlägiger Portale wie Filmstarts nicht wirklich dem Genre Komödie zugeordnet werden kann.

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  • Dienstag, 20. August 2019, um 21 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann