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Eine schrecklich nette Familie mit Veronika Nickl, Michael Lippold, Dominik Dos-Reis (vorn) und Marius Huth.

Kommt uns in Bochum doch sehr finnisch vor

Das Gespenst der Normalität

Guckkasten-Bühne: Wohnzimmer mit Esstisch, großer Fensterfront samt Tür zum Garten, im Fernseher rechts läuft ein Naturfilm. „In stiller Trauer. In dankbarer Erinnerung“: Niki Verkaar, die Endzwanzigerin aus den Niederlanden ergänzt als Gast das vierköpfige Bochumer Ensemble, schneidet aus der Zeitung eine Todesanzeige aus und pinnt sie an die Wand links neben der Eingangstür.

Schnitt. Familienaufstellung mit Veronika Nickl und Michael Lippold als Elternpaar sowie Dominik Dos-Reis und Marius Huth als Kinder. Während die Mutter davon träumt, als Familie „ganz normal, so wie alle anderen“ zu sein, muss sie mitansehen, wie einer ihrer Söhne in Mädchenkleidung herumläuft. Draußen zieht ein Gewitter auf, es donnert gewaltig.

Ja, ist denn schon wieder Weihnachten? – mit Dominik Dos-Reis und Niki Verkaar.

Schnitt. Niki Verkaar wirbelt in entsprechendem Kostüm als Flamenco-Tänzerin durchs Zimmer, aus dem Off erklingt dazu schmissige Musik, wie zur Einstimmung aufs bald blutige Geschehen sie in Stierkampf-Arenen. Schnitt. Dominik Dos-Reis zieht eine hellblaue Unterhose am Fahnenmast hoch, Michael Lippold und Marius Huth recken den rechten Arm in die Höhe. Veronika Nickl zeigt sich entsetzt über den Nazigruß. Doch Lippold wiegelt ab: Wo keine Nazis, da kein Hitler-Gruß.

Schnitt. Hochzeit. Alles entspannt. Bis auf das Verbot des Pfarrers, Reis auf das Brautpaar zu werfen. Grund ist nicht der unchristliche Fruchtbarkeitsritus an sich, sondern die Behauptung des Geistlichen, dass die Körper der die Körner pickenden Tauben explodieren könnten. Schnitt. Veronika Nickl lernt Spanisch übers Radio. Stopft aber lieber Berliner Pfannkuchen in ihren Mund als die Lehrsätze nachzusprechen – und mokiert sich dann über fettige Finger. Schnitt. Ein Ehepaar sitzt am Tisch, er liest Zeitung, sie langweilt sich. Was sich schlagartig ändert, als ein Wolf im feinen Zwirn die Stube betritt und der Frau zuprostet.

100 Minuten lang

Schnitt. Veronika Nickl und Michael Lippold wieder als Ehepaar, das sich wie ein Roter Faden durch den einhundertminütigen Abend zieht. Sie beobachten wie ein junges, von Niki Verkaar verkörpertes Mädchen virtuos Vivaldi auf der Querflöte spielt und dazu auch noch kokett tanzt. Was die Mutter ganz wunderbar findet, weil ganz normal – im Gegensatz zu ihrem Sohn, der gern ein Mädchen wäre (im Programmheft steht, dass Dominik Dos-Reis ein Mädchen spielt, das wie ein Junge aussieht: kann ich so nicht nachvollziehen).

Schnitt. Eine junge Frau, die sich von einem Wolf verfolgt sieht, welcher nur für ihre Sehnsüchte jenseits des Alltäglichen steht, beim Therapeuten. Eine einsame Frau, die stumm Vögel mit dem Fernglas beobachtet. Eine andere, offenbar fremde Frau (als solche mit Vogelkopf gekennzeichnet) wird beschimpft, Einheimischen die Arbeit wegzunehmen. Die freudlos vor sich hinlebende Gattin will endlich auch Spaß haben und erträumt sich feurige Flamenco-Tänzer an ihre Seite. Ein Chor-Quartett in Rabenvogel-Masken grenzt einen Fünften in gelbem Papageienkopf aus, welcher sich rächt, indem er die Fensterscheibe zum Garten bemalt. Am Weihnachtsabend steht die Mutter allein in der Küche, um das Festtagsessen zuzubereiten, während der Rest der Familie vor der Glotze hockt…

Erstaufführung in deutscher Sprache

„Tavallisuuden Aave“, 2016 beim Theaterfestival im finnischen Tampere von der Autorin Saara Turunen selbst urinszeniert, erlebte am 11. September 2021 seine Deutschsprachige Erstaufführung am Schauspielhaus Bochum – ebenfalls in der Regie der 1981 im finnischen Joensuu geborenen Dramatikerin und Romanschriftstellerin. Wer beim deutschen Titel „Das Gespenst der Normalität“ an den spanischen Surrealisten Luis Buñuel denkt, liegt goldrichtig: Sein Film „Das Gespenst der Freiheit“ von 1974 war eine der Inspirationsquellen für das, was die Naturverbundenheit, die Liebe speziell zu Vögeln und insgesamt die Spanien-Affinität betrifft, stark autobiographische Stück Saraa Turunens, die erstmals in Deutschland inszeniert hat.

Sie erforscht in kurzen Szenen einerseits das Alltägliche und die Sehnsucht nach dem Gewöhnlichen, welche sich aus der Angst vor dem Anderssein speist, auch dem Erschrecken darüber, wenn sich etwas von der Masse abzuheben scheint. Andererseits zeigt die Autorin, die sich bisher schwerpunktmäßig mit den Themen Weiblichkeit, Identität und soziale Normen beschäftigt und dabei immer wieder Ausflüge ins Märchenhafte und Irrationale unternommen hat, das heimliche Verlangen, aus dem selbstgewählten Kokon der Normalität auszubrechen, und sei es auch nur für Momente.

Als Regisseurin hat sich Saraa Turunren ganz dem filmischen Œuvre ihrer berühmten Landsleute, der Kaurismäki-Brüder, verschrieben. Wer die lakonische Situationskomik etwa in „Der Mann ohne Vergangenheit“ liebt, die Wortkargheit in „Die andere Seite der Hoffnung“, das Märchenhafte in „Le Havre“ oder das – bisweilen durchaus nervige - Mitgefühl für Loser in „Lichter der Vorstadt“, ist in den Bochumer Kammerspielen in „Das Gespenst der Normalität“ genau richtig. Bei Gabriel Fauré, Erik Satie und Jean Sibelius, habe ich darüberhinaus auch noch Schostakowitschs Walzer Nr. 2 herausgehört?, kommen überdies auch Freunde klassischer Musik voll auf ihre Kosten. Auch wenn kein tragisch-melancholischer finnischer Tango erklingt, wie wir ihn durch Peter Lichtefelds Film „Zugvögel – Einmal nach Inari“ 1998 mit Joachim Król lieben gelernt haben.

Die nächsten Vorstellungen: Am Sonntag, 26. September 2021, um 19 Uhr, am Samstag, 9. Oktober 2021, um 19.30 Uhr, am Sonntag, 10. Oktober 2021 und am Sonntag, 24. Oktober 2021 jeweils um 19 Uhr in den Kammerspielen Bochum, Karten auf der Homepage schauspielhausbochum.de oder unter Tel. 0234 – 33 33 55 55.

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  • Sonntag, 26. September 2021, um 19 Uhr
  • Samstag, 9. Oktober 2021, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 10. Oktober 2021, um 19 Uhr
  • Sonntag, 24. Oktober 2021, um 19 Uhr
Freitag, 24. September 2021 | Autor: Pitt Herrmann