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Kapitän Ahab (Matthias Hecht) liegt mit seinem Steuermann (Oliver Möller) häufig über Kreuz.

„Moby Dick“ in Bochum

Alle Mann an Deck

Mit seinem 1851 erschienenen Roman „Moby Dick or The Whale“ hat der New Yorker Herman Melville (1819-1891) eines der bedeutendsten Prosawerke des 19. Jahrhunderts geschrieben. Auf knapp 800 Seiten erzählt er in 135 Kapiteln plus „Etymologie“, der Zitatensammlung „Auszüge“, einem knappen, auf die biblische Figur Hiob verweisenden Epilog sowie einem mehrseitigem Leseapparat, der dieses zu Unrecht als Jugend- oder Abenteuerroman verschriene und in skandalöser Weise vielfach verkürzte und entschärfte Buch in die Nähe einer (populär-) wissenschaftlichen Abhandlung rückt, die Geschichte Ismaels.

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Der Ich-Erzähler will aus purer Langeweile auf einem Schiff anheuern und landet nach einer Nacht im zweifelhaften Gasthaus „Zum Walfisch“ zielstrebig in der Mannschaft des Walfängers Pequod von der Insel Nantucket: „Von wo als von Nantucket“, so Ismael, „sind jene Ur-Walfänger, die Indianer, in ihren Kanus zur Jagd auf den Leviathan aufgebrochen?“ Was er nicht ahnt: die Pequod ist ein ganz besonderes Schiff, dessen zu allem entschlossener, weder das eigene Leben noch das seiner Seeleute schonender Kapitän Ahab zur alle Meere umspannenden Jagd auf den weißen Wal Moby Dick bläst, welchem er sein Holzbein verdankt...

Braucht der Romanleser mehrere Tage und Nächte, bis auf Seite 750 der Ich-Erzähler und einzige Überlebende der untergegangenen Pequod auf dem Sarg seines Blutsbruders Quiqueg seiner Rettung entgegendümpelt, dauerte es Ende März 2015 beim, so der Untertitel, „Rachefeldzug mit Puppen und Menschen“ der Berliner Theatermacherin Roscha A. Säidow im Schauspiel Dortmund noch keine Schulstunde. Er beließ es nicht mit der rasanten Nacherzählung des turbulenten Geschehens um die Jagd auf Moby Dick, sondern ließ auf grandios-kabarettreife Weise das „Literarische Quartett“ wiederaufleben: Marcel Reich-Ranicki, Hellmuth Karasek und Sigrid Löffler versammelten sich zur rein feuilletonistisch-intellektuellen Aufarbeitung des Themenkomplexes Wahn und Gewalt, Fanatismus und Terrorismus sowie Rache und Vergeltung mit dem Experten Ahab im Mainzer Fernsehstudio. Schon die unter „Rote Armee Fraktion“ firmierende Baader-Meinhof-Bande berief sich auf Melvilles Roman und wählte ihre Decknamen aus „Moby Dick“: Andreas Baader, der so charismatische wie rücksichtslos-gewalttätige „Kopf“ der westdeutschen Terroristen, war selbstredend Ahab…

Eine Traumvision: Ahab (Matthias Hecht) und die Harpunierin (Yvonne Forster) als seine Braut im Hochzeitskleid.

„Schlächter sind wir, das ist wahr. Aber Schlächter, und zwar Schlächter der blutigsten Sorte, sind auch alle Heerführer im Kriege gewesen, welche die Welt ausnahmslos hochzuschätzen beliebt“: Sieben Jahre später ist ein solch konkreter Background bei Hans Drehers begeisternder, weil äußerst bildmächtiger Adaption in „seinem“ Bochumer Prinz Regent Theater zwar ausgeblendet, das horrible momentane Weltgeschehen schwingt aber in den Köpfen der Zuschauer wie ein Hintergrundraunen stets mit: Kapitän Ahabs Wahn ist leider zeitlos aktuell. Dreher, zusammen mit Anne Rockenfeller künstlerischer Leiter der ambitionierten Off-Bühne im Süden Bochums, hat einen unkonventionell-neuen Blick auf diesen Klassiker der Weltliteratur gerichtet und sich dabei einen langgehegten Traum erfüllt.

Zu dem ein ungemein spielfreudiges vierköpfiges Ensemble mit Matthias Hecht als Ahab, Oliver Möller als Steuermann, Yvonne Forster als Harpunistin sowie Jonny Hoff als Rekrut beiträgt: In der Tat wird hier zwei kurzweilige Stunden augenzwinkernd-locker aktualisiertes Theater gespielt („Arbeitsvertrag befristet auf drei Jahre – ohne Sozialversicherung“), bisweilen atemberaubend-artistisch auf dem Gerüst mit dem zerzausten Geier als Gallionsfigur herumgeturnt. Und ganz im Sinne des ollen B.B. das Making-of des zumeist turbulenten Geschehens gleich mitgeliefert (etwa das Ringen um die politisch-korrekte Bezeichnung der Ureinwohner). Selbst bei längeren philosophischen Sentenzen wird kaum erzählt, sondern geradezu spannend agiert. Was bei Literaturadaption eher ungewöhnlich ist. Zudem betätigt sich das Darstellerquartett auch als Geräuschemacher, Kulissenschieber und Rhythmusgruppe.

Zum großen Erfolg dieser immer wieder erfrischend ironischen, die Vorlage dennoch ernst nehmenden Inszenierung tragen nicht zuletzt auch die hintergründig-witzigen, auch, an Max Ernst erinnernd, surrealen Videos des Herner Künstlers Patrick Praschma bei, der seinen Erfindungsreichtum bereits bei der inzwischen schon legendären „Faust“-Inszenierung Drehers unter Beweis stellte. Clara Eigeldingers Ausstattung kommt daher mit nur wenigen, aber ungewöhnlichen Requisiten aus, zu denen etwa vier Lampenständer, einige Fässer und ein das Pottwalfangschiff imaginierendes Baugerüst gehören.

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Die nächsten Vorstellungen: Am Freitag, 6. Mai und am Samstag, 7. Mai, am Dienstag, 21. Juni und am Mittwoch, 22. Juni 2022 jeweils um 19:30 Uhr im Prinz Regent Theater an der Bochumer Prinz-Regent-Straße 50-60. Aktuell gibt es für einen Theaterbesuch keine Corona-Vorgaben. Das Tragen einer medizinischen Maske ist nicht mehr vorgeschrieben, wird jedoch im Theatergebäude empfohlen. Das Foyer und die Foyer-Bar sind eine Stunde vor Vorstellungsbeginn geöffnet. Karten unter prinzregenttheater.de oder Tel 0234 – 77 11 17.

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  • Freitag, 6. Mai 2022, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 7. Mai 2022, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 21. Juni 2022, um 19:30 Uhr
  • Mittwoch, 22. Juni 2022, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann