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Mit Marius Huth (u.a. als David Lurie), gebürtiger Frankfurter des Jahrgangs 1993, verfügt das Bochumer Ensemble über einen ungemein wandlungsfähigen Schauspieler.

Übergriffige Publikumsbeschimpfung

„Schande“ in Bochum

James Baldwin aus dem Off. Bei vollem Saallicht wird ein Zuschauer auf die Bühne gebeten, um die Schauspielerin Amina Eisner aus einem Käfig zu befreien, die anschließend ihren Kollegen Viktor Ijdens herausholt. Letzterer stellt das heute als rassistisch empfundene Blackfacing vor (Shakespeares Othello darf weder der Mohr von Venedig genannt noch von einem Weißen verkörpert werden) und wirft dem Fischer-Verlag solch verwerfliches Tun vor beim Cover des Romans „Schande“. Dann tritt Amina Eisner, gebürtige Berlinerin des Jahrgangs 1990, an die Rampe und spricht über ihre Probleme mit dem Stoff, der in den folgenden neunzig Minuten notgedrungen arg verkürzt auf den Bochumer Schauspielhaus-Brettern verhandelt werden soll.

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Worum geht’s eigentlich? In dem 1999 in London erschienenen Roman „Disgrace“ des 1940 in Kapstadt/Südafrika geborenen australischen Schriftstellers und Literatur-Nobelpreisträgers John Maxwell Coetzee hat der 52-jährige David Lurie, Professor an der Cape Technical University Kapstadt, eine Affäre mit einer seiner Studentinnen. Für den zweimal geschiedenen Vater einer Tochter, die eine kleine Farm am anderen Ende Südafrikas betreibt, kein Grund, in Sack und Asche zu gehen. Er lebt allein und hat sich bisher immer donnerstags weibliche Zuwendung mit Soraya, einer Professionellen, gegönnt.

Die post-koloniale Gesellschaft Südafrikas kämpft noch mit der Vergangenheit: Amina Eisner (oben) befreit Victor Ijdens aus dem Käfig.

Der Literaturprofessor für moderne Sprachen, nun aber, im Zuge der Umstrukturierungen fünf Jahre nach dem Ende der Apartheid in Südafrika, Professor für Kommunikationswissenschaft, hat sich mit Melanie Isaacs eingelassen, einer dreißig Jahre jüngeren Studentin aus seinem Romantik-Seminar. Die steht im Studententheater in „Sunset in the Globe Salon“ auf der Bühne, einer Komödie über das neue Südafrika, welche in einem Friseursalon spielt. Lurie stellt ihr nach, sie gibt nach – kein Zwang, keine Verbindlichkeiten. Melanie ist volljährig und muss wissen, was sie tut.

David reagiert auf eine Anzeige von Melanies Vater, welche auch die Gremien der Universität erreicht, gelassen. Doch Prorektor Aran Hakim, Fachbereichs-Direktorin Elaine Winter und die Vorsitzende der Untersuchungskommission, Farodia Rassool, konfrontieren ihn mit von ihm gefälschten Daten von Seminar-Teilnahmen Melanies und geschönten Noten einer Klausur. Manas Mathabene, Professor für Religionswissenschaft und Vorsitzender der Anhörungskommission, nimmt kopfschüttelnd Davids Schuldbekenntnis zur Kenntnis: der Angeklagte ist zu keiner öffentlichen Reue-Bekundung bereit und wird suspendiert.

David fährt nach Salem auf die kleine Farm seiner Tochter Lucy. Sie lebt mit dem Miteigentümer Petrus und dessen Familie auf einem Areal, wenn auch nicht unter einem Dach, zusammen. Spaziergänge und der wöchentliche Markttag, wo Lucy Gemüse und Blumen aus eigenem Anbau feilbietet, bringen etwas Abwechslung in Davids Leben. Der nicht nur in Schwierigkeiten steckt, wie er offen eingesteht: „In Schande, so würde man das wahrscheinlich nennen.“ Um aus der Isolation herauszukommen, hilft er Bev Shaw ehrenamtlich in der Tierklinik, in der vor allem herrenlose herumstreunende Hunde getötet werden.

Mit seiner Tochter versteht er sich eher schlecht. Sie entwickelt keinen Ehrgeiz, sondern arrangiert sich mit den Verhältnissen, die für weiße Farmer wie den deutschstämmigen Nachbarn Ettinger immer schwieriger werden: „Es gibt nur dieses Leben hier.“ Für Lucy, die eine lesbische Beziehung hinter sich hat, ist zudem das Sexualverhalten ihres Vaters unverständlich, den sie als Bürde bezeichnet, „auf die wir ohne weiteres verzichten könnten.“ Selbst als sie von zwei Männern und einem Jungen überfallen, geschlagen und ausgeraubt werden, und Lucy mehrfach vergewaltigt wird, ist Letztere nicht bereit, die Farm aufzugeben und zu holländischen Verwandten zu ziehen. Lucy, die über die Vergewaltigung nicht sprechen will, zieht sich apathisch aus dem Farmalltag zurück – und der Erzähler bürdet ihrem Vater, der seiner Tochter beim Überfall nicht helfen konnte, auf: „Lucys Geheimnis; seine Schande.“

„Schuld und Erlösung sind abstrakte Begriffe“, bekundet Lucy gegenüber ihrem Vater: „Ich handle nicht nach abstrakten Begriffen.“ Selbst als sich herausstellt, dass Pollux, der Junge vom Überfall, zur Familie ihres Miteigentümers Petrus gehört und von diesem gedeckt wird, ist Lucy zu keiner Anzeige bereit. Ja, sie will das Kind, die Folge der Vergewaltigung, zur Welt bringen und sich unter den Schutz von Petrus‘ Familienverband begeben. „Aber wenn ich jetzt die Farm verlasse“, schreibt sie ihrem Vater, „gehe ich als Gescheiterte und werde dieses Scheitern für den Rest meines Lebens schmecken.“ Lucy ist sogar dazu bereit, Petrus‘ dritte Ehefrau zu werden.

Auf dem Rückweg nach Kapstadt sucht David in George die Familie Isaacs auf. Melanies Vater lädt ihn zu seiner Überraschung zum Abendessen ein. Gattin Doreen ist der Meinung, dass Davids Weg von Gott bestimmt worden ist: „Wir dürfen uns nicht einmischen.“ Nach drei Monaten zurück in Kapstadt betritt der geschasste Hochschullehrer ein geplündertes Haus mit abgestelltem Strom und toter Telefonleitung. Melanie hat das Studium wiederaufgenommen, spielt weiterhin im Dock Theatre. David Lurie beschließt, in die Nähe seiner Tochter zu ziehen, in der Tierklinik zu arbeiten und seine Arbeit an der Kammeroper „Byron in Italien“ wiederaufzunehmen…

Den 280-seitigen Roman „Schande“ haben die Bochumer Dramaturgin Angela Obst und der kroatische Regisseur Oliver Frljić für die Bühne adaptiert. In einer Mischung aus Erzählung und szenischer Umsetzung gelingt es, das Publikum unmittelbar zu konfrontieren mit Themen wie Rassismus und Sexismus. Das Schauspielerquartett, noch zu nennen Dominik Dos-Reis und Marius Huth, agiert ohne feste Rollenbindung. So übernimmt Amina Eisner auch die Rolle von Lucy: Whitefacing ohne Schminke? Übergriffig wird die Publikumsbeschimpfung, als alte weiße Männer sind wir naturgemäß für alle Untaten unserer Vorväter verantwortlich, wenn bei der zwischenzeitlichen Befragung die Reaktion der Zuschauer gefilmt und live übertragen wird.

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Die nächsten Vorstellungen: Am Mittwoch, 1. Dezember 2021, Donnerstag, 2. Dezember 2021, sowie am Dienstag, 28. Dezember 2021, jeweils um 19:30 Uhr im Schauspielhaus Bochum. Karten unter schauspielhausbochum.de oder Tel 0234 – 3333 5555.

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  • Mittwoch, 1. Dezember 2021, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 2. Dezember 2021, um 19:30 Uhr
  • Dienstag, 28. Dezember 2021, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann