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Bruno Ganz als Günther Goldsmith.

Letzter Film mit Bruno Ganz

Neu im Kino: Winterreise

Tucson, Arizona, 1996. Martin Goldsmith (Harvey Friedman), ein in den USA bekannter Radiomoderator, besteigt mit seinem betagten Vater Günther (beeindruckt auch in seiner letzten Rolle: Bruno Ganz) einen Berg. Am Gipfel angekommen blickt der Alte über die Weite einer kargen, aus europäischen Augen eher menschenfeindlichen Landschaft – und stimmt das Lied „Fremd bin ich eingezogen, fremd zieh ich wieder aus“ aus Franz Schuberts „Winterreise“ an. Dennoch hat es Martins Eltern in diese Einsamkeit gezogen. Nach dem Tod seiner Mutter Rosemarie will Martin endlich mehr erfahren über seine familiären Wurzeln

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Und die liegen in Oldenburg, einer kleinen norddeutschen Universitätsstadt, deren klassizistische Architektur an das bis 1918 bestehende Großherzogtum erinnert. Günther ist in der Gartenstraße 34 aufgewachsen, in einer der Villen unmittelbar am Schlossgarten, dem großen Spielplatz seiner und der friedlichen Kindheit seiner Schwester. Günthers Vater war Jude – und im Ersten Weltkrieg mit dem Eisernen Kreuz 1. Klasse ausgezeichneter stolzer Deutscher. Die Feier der Bar Mitzwa 1926 in der Oldenburger Synagoge war für Günther Goldschmidt (Leonhard Scheicher) der erste Schritt in die Welt der Erwachsenen, seine erste Begegnung mit der Musik, eine Aufführung der „Zauberflöte“ Mozarts im Oldenburgischen Staatstheater, sollte sein weiteres Leben bestimmen.

Leonhard Scheicher als Günther Goldschmidt in jungen Jahren.

Dem Abitur folgte ein Musikstudium in Karlsruhe bei Professor Spittel (András Bálint), der 1935 nach dem Erlass der Nürnberger Gesetze seinen Musterschüler von der Universität werfen musste – ohne Abschluss. Der 22-Jährige meldet sich, statt nach Schweden auszuwandern, wie ihm dringend ans Herz gelegt wird, beim zwei Jahre zuvor gegründeten Jüdischen Kulturbund in Frankfurt/Main. Wo der Flötist mit Rosemarie (Izabella Nagy) nicht nur eine hübsche Bratschistin kennen-, sondern seine spätere Frau lieben lernt. Die jungen Musiker wollen spielen, nun in Berlin, obwohl die Zeichen der Zeit unverkennbar sind: 1938 müssen Günthers Eltern ihre klassizistische Villa verkaufen. Im November 1939 sieht Rosemarie auf dem Weg zu ihren Eltern nach Düsseldorf aus dem Zugfenster die in der sog. „Kristallnacht“ brennende Synagoge in Hannover.

Auch ihre Eltern denken nicht an Auswanderung, veranstalten lieber einen Beethoven-Abend der Hausmusik. Bei Kriegsausbruch keimt neue Hoffnung auf: Hitler wird verlieren. Und das Kulturbund-Orchester spielt Gustav Mahler. Sogar Fahrradausflüge in das Berliner Umland sind für die jungen jüdischen Musiker noch möglich. Nach der Besetzung Frankreichs aber wird es allerletzte Zeit, Deutschland zu verlassen…

Martin Goldsmith ist als ein gewöhnlicher amerikanischer Junge aufgewachsen, von der Familiengeschichte völlig unbelastet. Bisher wusste er nur, dass seine Eltern, beide säkuläre Juden, aus Deutschland stammten. Dass beider Verwandtschaft im Zweiten Weltkrieg gestorben ist, spielte daheim im neuen, erfolgreichen Musiker-Leben der Familie Goldsmith keine Rolle. „Ich suche nach etwas, nach Familie. Nach der Vergangenheit“: Die Gespräche mit seinem Vater, in englischer Sprache geführt und im Film untertitelt, eröffnen Martin eine neue Welt, die ins Deutschland der 1930er und 1940er Jahre zurückführt. Er kann einfach nicht verstehen, warum sie die Zeichen der Zeit nicht früher erkannt und das Land, dass sich die Vernichtung der Juden auf die Hakenkreuz-Fahnen geschrieben hat, nicht frühzeitig verlassen haben. „Es bricht einem das Herz“ bekundet Martin einmal während seiner akribischen Materialsuche. Ein Satz, den jeder, der diesen höchst ungewöhnlichen semidokumentarischen Film gesehen hat, nur unterstreichen kann.

Die künstlerische Umsetzung mit historischem Archivmaterial und nachgestellten Standfotos frappiert: in Re-Enactment-Szenen werden die Schauspieler mit Hilfe von Green Screen in die authentischen Hintergründe der Archivfotos eingefügt und gehen sogar im Bewegtbild umher, Leonhard Scheicher etwa vor mit Hetzparolen beschmierten Schaufenstern jüdischer Geschäftsinhaber. Hinzu kommen fantastische Elemente wie die einer Deutschland-Reise aus der Vogelperspektive mit dem Chor aus der Oldenburger „Zauberflöte“.

Anders Østergaard, 1965 in Kopenhagen geboren, arbeitete als ausgebildeter Journalist in der Werbebranche, bevor er sich als Dokumentarfilmregisseur einen Namen machte. Sein Film „Burma VJ – Berichte aus einem verschlossenen Land“ war 2010 für den Oscar in der Kategorie „Bester Dokumentarfilm“ nominiert. Sein neunzigminütiger Film beruht auf dem Buch, das Martin Goldsmith nach den Gesprächen mit seinem Vater schrieb und das den deutschen Titel trägt: „Die unauslöschliche Symphonie. Musik und Liebe im Schatten des Dritten Reiches - eine deutsch-jüdische Geschichte“. „Virtuell“ uraufgeführt Mitte Mai 2020 beim coronabedingt als Video-on-Demand durchgeführten DOKfest München fand die feierliche Leinwand-Premiere am 6. September 2020 im Staatstheater Oldenburg sowie im cineK-Kino in der Oldenburger Kulturetage statt in Anwesenheit des Regisseurs und seiner ungarischen Co-Regisseurin Erzsébet Rácz.

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„Winterreise“ kommt am 22. Oktober 2020 bundesweit in die Kinos, in unserer Region leider nur vereinzelt und mit Verspätung: ab 24. Oktober ins Düsseldorfer Metropol, ab 25. Oktober 2020 nur für drei Tage ins Essener Filmstudio Glückauf und sogar erst ab 5. November 2020 ins Sweet Sixteen in der Dortmunder Nordstadt.

| Quelle: Pitt Herrmann