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Sandrine Kiberlain und Thais Alessadrin als Mutter Heloise und Tochter Jade.

Neu im Kino: Ausgeflogen

Heloise (Sandrine Kiberlain) hat es eilig, als sie ein chices BMW Cabrio ausleiht. Schließlich will sie Jade (Thais Alessandrin) rechtzeitig zu einem wichtigen Abi-Test kutschieren – und wird prompt wegen Geschwindigkeitsüberschreitung von der Polizei gestoppt. Die charmante und lebensfrohe Mutter dreier Kinder, zu nennen noch Theo (Victor Belmondo) und Lola (Camille Claris), muss Familie und Beruf ohne ihren Gatten Franck (Yvan Attal) wuppen, den sie bereits vor zwölf Jahren vor die Tür setzte nachdem er fremdgegangen war. Sie ist eloquent genug, mit einer kleinen Notlüge ohne Strafzettel davon zu kommen.

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Materiell geht es der Familie nicht schlecht, die in einem der prachtvollen Häuser entlang der Pariser Boulevards lebt: Heloise betreibt ein gut gehendes Restaurant. Sie unterstützt ihre Jüngste nach Kräften, was soweit gehrt, dass sie Jade übers Handy Informationen zum Prüfungsthema des Vorabiturs zukommen lässt. Als die Sache auffliegt, gelingt es Heloise mit einem bühnenreifen Auftritt, die Wogen wieder zu glätten: Sie staucht ihre Tochter dermaßen zusammen, dass die Lycee-Direktorin (Nathalie Cerda) Mitleid mit der Übeltäterin bekommt und Gnade vor Recht ergehen lässt.

Soviel verdient die Alleinerziehende freilich nicht, dass sie Jades Zukunftspläne ohne Hilfe des im Ausland lebenden „Ex“ stemmen könnte: Ihr Küken hat sich an einer kanadischen Universität beworben und wartet auf ihren Zulassungsbescheid. Doch zunächst verliebt sie sich in Louis (Mickael Lumiere), den besten Freund ihres Bruders Theo. Was ihren Entschluss, jenseits des Großen Teichs zu studieren, wieder fraglich erscheinen lässt.

Heloise selbst, die sich immer wieder an vergangene Zeiten, etwa als sie mit ihren kleinen Kindern im Bett tollte, erinnert, war bisher noch nicht dazu bereit, sich auf einen neuen Mann in ihrem Leben einzulassen. Obwohl mit dem gut aussehenden Mehdi (Arnaud Valois) ein Kandidat bereit stünde. Nun aber, da mit Jade auch ihre Jüngste eigene Wege gehen will, droht ihr Leben aus dem Gleichgewicht zu geraten: Nicht die Tochter hakt sich am Nest fest, sondern die Mutter an ihrem Nesthäkchen.

Als der Zulassungsbescheid der kanadischen Universität ins Haus flattert, fängt Heloise an, ihre Tochter mit dem iPhone zu filmen. Die kleinen Videos sollen ihr glückliches Zusammenleben als Familie für immer festzuhalten. Weshalb sie in Panik gerät, als das Smartphone mit den gespeicherten Erinnerungen plötzlich verschwunden ist. Nun beginnt eine Verfolgungsjagd der besonderen Art: Die ganze Familie folgt dem Signal des verlorenen Handys, einem durch Paris wandernden Punkt. Zum Glück hatten die Kinder heimlich eine Tracking-App installiert. Sie finden zwar das Handy nicht, aber diese Aktion zeigt Heloise, dass sie bei all dem Filmen fast vergessen hat, die gemeinsame Zeit mit ihren Kindern zu genießen. Auf dem Pariser Flughafen Orly setzt Jade, deren Studium vom Großvater finanziert wird, ihrer Mutter die Krone ihrer Kindheit auf: Heloise wird endlich zur Königin ihres eigenen Lebens...

„Ausgeflogen“, am 16. Januar 2019 beim Festival in L'Alpe d' Huez uraufgeführt, ist ein sehr emotionaler Film über Familienzusammenhalt, Loslassen und – schmerzliche, aber notwendige – Neuanfänge. Vor allem aber ist er einschließlich der zentralen Handy-Verfolgungs-Szene autobiographisch, und das sogar besetzungstechnisch: Die Jade-Darstellerin Thais Alessandrin, die jüngste Tochter der Drehbuchautorin und Regisseurin Lisa Azuelos („Lol – Laughing out loud“), war siebzehn Jahre jung, als die den Zulassungsbescheid zur kanadischen McGill Universität erhielt. Der Film spielt auf zwei Zeitebenen, 2005 und 2018, und diese doch erhebliche Spanne meistert Sandrine Kiberlain ohne größere optische Veränderungen (kürzere Haare im Alter) erstaunlich gut.

„Mon bebe“, so der Originaltitel, will Mut machen – gerade vor dem Hintergrund der französischen Gesetzgebung. Lisa Azulos gehörte zur ersten „Generation“ von Eltern, die sich für ein geteiltes Sorgerecht entschieden haben, was vor fünfzehn Jahren den Wegfall der Unterhaltspflicht bedeutete. Auch wenn wir in Deutschland eine andere Regelung haben, bleibt „Ausgeflogen“ zeitlos aktuell. Die Regisseurin: „Mit meinem Film möchte ich alleinerziehende Mütter ansprechen, die unerfahrenen, wie auch die erprobten. Ich möchte meine Erfahrungen teilen und ihnen sagen: „Es ist ganz schön schwer und nimmt einen ganz schön mit. Auf jeden Fall ist es besser Yoga zu machen, als Whisky zu trinken. Doch man bekommt es in den Griff!“ Und im Grunde glaube ich, dass das Gefühl der Verlassenheit, das man empfindet, wenn der letzte Sprössling das Nest verlässt, dasselbe ist, egal, ob man nun als Paar zusammenlebt oder nicht, verheiratet ist oder nicht, beide Elternteile werden einmal damit konfrontiert.“

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Bei der Deutschen Erstaufführung des knapp 90-minütigen Films am 29. Mai 2019 im Cinema Paris am Berliner Kudamm wehrte sich die Regisseurin unter zustimmendem Nicken der französischen Botschafterin Anne-Marie Descotes gegen die Etikettierung Frauenfilm: „Männer sehen den auch ganz gern.“ Gehe ich d'accord. „Ausgeflogen“ ist ab 15. August 2019 im Kino Endstation im Kulturbahnhof Bochum-Langendreer zu sehen.

| Autor: Pitt Herrmann