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Verwaister Flur einer Kita während der Pandemiezeit.

„Wir arbeiten hier gegen unsere Haltung“

Kinder in der Ausnahme-Notbetreuung

Seit dem 26. April 2021 besagt die bundeseinheitliche „Corona-Notbremse“, dass in den Kindertagesstätten nur noch eine Notbetreuung angeboten werden soll. Diese „Bundesnotbremse“ greift dann, wenn der Corona-Inzidenzwert bei über 165 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner in einer Woche liegt. Ein Wert, der in Herne seit vielen Wochen erreicht wird. Also sind die Herner Kitas geschlossen? Mitnichten. Der Alltag sieht in den einzelnen Kitas oft nicht nach einer reinen Notbetreuung aus. Das liegt unter anderem an den zahlreichen Hintertürchen, die das NRW-Familienministerium von Joachim Stamp (FDP) geschaffen hat.

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So ist es sicherlich gut und richtig, dass Kinder in schwierigen familiären Situationen und Wohnverhältnissen und Kinder, die einer integrativen Förderung bedürfen, weiterhin in die Kitas gehen dürfen. Ebenso dürfen auch die Kinder in die Kita gehen, die im Sommer eingeschult werden. Daneben hat Joachim Stamp auch verfügt, dass die Kinder anspruchsberechtigt sind, „deren Eltern die Betreuung nicht auf andere Weise sicherstellen können, insbesondere, wenn sie ihrer Erwerbstätigkeit nachgehen müssen.“ Wer jetzt glaubt, dass dafür eine Arbeitsbescheinigung des Arbeitgebers vorgelegt werden muss, der irrt: Es reicht aus, wenn die Eltern selber in einer schriftlichen Erklärung der Kita mitteilen, dass ihr Kind nicht anderweitig betreut werden kann.

Keine klaren Entscheidungen

Das ärgert nicht nur Gaby Szymkowiak-Tarnowski, die die Städtische Tageseinrichtung am Regenkamp leitet: „Es ist unvorstellbar, dass die Politiker nicht in der Lage sind, hier eine klare Entscheidung zu treffen." Das Ergebnis sei, dass von ihren 95 Kindern, die sich in 'Nicht-Corona-Zeiten' in der Einrichtung tummeln, nun im Schnitt immer noch 40 (wechselnde) Kinder am Tag betreut werden. „Wir ärgern uns schon über eine Handvoll Eltern, die ihre Kinder Tag für Tag bringen, obwohl wir genau wissen, dass sie nicht berufstätig sind“, erzählt Szymkowiak-Tarnowski im halloherne-Gespräch.

Wohingegen andere Eltern immer wieder einen Spagat hinlegen. „Es gibt Eltern, die arbeiten vielleicht halbtags und müssen sich permanent mit ihrem Arbeitgeber und mit uns absprechen.“ Es sei ein Spagat auf beiden Seiten, „das geht jetzt schon über ein Jahr so und ein Ende ist nicht in Sicht. Seit über einem Jahr wird rumgehampelt. Es müssen klare Entscheidungen her."

Außengelände der Kita - hier spielt kein Kind.

Dass viele Eltern nach einem Jahr Corona an ihre Belastungsgrenzen stoßen, ist für sie kein Wunder. So hätten sie zum Beispiel eine Familie mit vier Kindern: Zwei in der Kita und zwei Schulkinder, 4. und 6. Klasse. „Mit der Familie haben wir vereinbart, dass sie die Kleinen natürlich bringen können, damit die anderen Kinder zu Hause beschult werden können.“ Daneben gäbe es aber auch sieben Familien, die brächten ihre Kinder schon über ein Jahr nicht mehr in die Kita - aus Angst vor einer Ansteckung.

Das ganze System sei ein sehr fragiles Gerüst. Dazu trägt auch der Krankenstand bei, der seit Corona relativ hoch ist: „Jeder in unserem Team“, berichtet Szymkowiak-Tarnowski, „ist streckenweise am Ende seiner Kraft. Und wenn eine Mitarbeiterin ausfällt, übernehmen natürlich die anderen aus dem Team die Mehrarbeit, aber es zerrt erneut an der Kraft. Die täglichen Gespräche mit den Eltern, die wir ja nur durch einen Türspalt sehen, zerren ebenso." Sorgen machen ihr die Kinder, die sich extrem gut an die neu gesetzten Grenzen halten würden. Die Leiterin sagt: „Wir arbeiten hier eigentlich mit einem offenen Konzept und offenen Türen. In Vor-Corona-Zeiten konnten die Kinder von Gruppe zu Gruppe. Das geht jetzt nicht, und die Kinder übernehmen das und zwar klaglos. Das finde ich schon beängstigend. Im Prinzip arbeiten wir hier jeden Tag gegen unsere Haltung."

Für eine Woche die Kita-Leitung übernehmen

Gerne würde Gaby Szymkowiak-Tarnowski Politikern das Feld in ihrer Einrichtung überlassen: „Aber nicht nur für ein oder zwei Stunden mit Begleitung der Presse, sondern für eine ganze Woche. Vielleicht würden sie dann einmal Entscheidungen mit Weitblick treffen, da sie dann nachvollziehen können, worum es geht.“

Die Klettergerüste warten auf die Kleinen.

Livia Leichner, die Leiterin der Evangelischen Tageseinrichtung an der Holsterhauser Straße, sagt im halloherne-Gespräch: „Seit der bundeseinheitlichen 'Corona-Notbremse' haben wir nun aktuell die bedarfsorientierte Notbetreuung, davor hatten wir den eingeschränkten Pandemiebetrieb, letztendlich ändert sich aber für die Eltern nichts. Außer, dass sich die Stundenzahl der Betreuungszeit verringert hat." Das würde viele Eltern schon in große Not bringen. Im Schnitt kämen 40 bis 50 Kinder am Tag in die Einrichtung.

„Viele unserer Eltern haben Schuldgefühle, wenn sie ihre Kinder jetzt schicken", weiß die Einrichtungsleiterin. „Obwohl das wirklich Quatsch ist. Die meisten tun mir schon leid. Die kommen von der Arbeit angehetzt und wollen so schnell wie möglich ihr Kind abholen. Denen sage ich dann, sie mögen erst einmal durchatmen, einkaufen gehen und dann ihr Kind holen.“ Ja, sie hätten auch Eltern, die keine Betreuungsnot haben, erzählt Leichner auf halloherne-Nachfrage. „Aber das sind zum Glück wenige Eltern.“

Sie führt fort: „Aber auch die Mitarbeiter haben Not. Not, sich nicht anzustecken." Auch wenn sich alle an die Corona-Regeln halten würden und kaum private Kontakte nach außen hätten, hätten sie hier natürlich viele, viele Kontakte mit den Kindern. „Das lässt sich nicht verhindern. Gerade unsere kleinsten Kinder haben wir natürlich oft auf dem Schoß und kuscheln mit ihnen. Aber auch wenn ein Sechsjähriger hinfällt, sagen wir ihm nicht aus drei Meter Entfernung, 'So, jetzt steh mal auf'. Auch er wird getröstet. Hier fällt keine Kuscheleinheit hinten rüber.“

30 zusätzliche Urlaubstage

„Sieben meiner Mitarbeitenden haben Kinder im Grundschulalter und müssen selber auf die Kinderkranken- und Pandemietage zurückgreifen, damit zum Beispiel das Homeschooling klappt. Schließlich kann man ein Grundschulkind nicht vor den Rechner parken und sagen 'dann mach mal fein'." 30 zusätzliche Urlaubstage können sie beanspruchen. Leichner: „Und das müssen sie auch, wenn sie ihre Kinder vernünftig betreuen wollen. Das bedeutet für uns im Umkehrschluss: Wir betreuen die Kinder mit immer weniger Personal.“ Wie lange das restliche Team das aushält, ist die Frage, obwohl „wir hier alle eisern durchhalten und auch schon einmal mit dem Kopf unterm Arm hier ankommen.“

Zwei Selbsttests pro Kind und Woche werden auch hier an die Eltern ausgehändigt, die ihr Kind zu Hause testen sollen. Aber ob sie das tun, das dürfe nicht kontrolliert werden. Eine Testpflicht wie für Schüler gibt es für die Kindergartenkinder nicht. „Wir haben von den Tests gar nichts", erzählt die Leiterin, „außer mehr Arbeit. Über jeden Test, der bei uns ankommt und den wir ausgegeben, müssen wir 'Buch führen'. Ob die Eltern die Kinder testen, das wissen wir nicht. Wir dürfen noch nicht einmal nachfragen, ob sie die Tests bei den Kindern gemacht haben."

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Zur Ausgabe der Tests an die Kindergarten-Eltern hat Livia Leichner ihre ganz eigene Meinung, mit der sie nicht unbedingt konform geht mit ihren Vorgesetzten: „Wenn das Ministerium will, dass die Tests verteilt werden, dann soll es sich ein Zelt auf die Bahnhofstraße stellen und die Tests verteilen.“

Das Ministerium verteilt die Tests an die Kita-Eltern aus einem Zelt heraus, das wär's.
| Autor: Carola Quickels