halloherne.de

lokal, aktuell, online.
Szene aus dem Stück Istanbul.

Ein Sezen Aksu-Liederabend

Istanbul bei den Ruhrfestspielen

„Gastarbeiter flirten nicht. Gastarbeiter lachen nicht. Gastarbeiter verlieben sich nicht. Weil sie Frau und Kind zu Hause haben“: Zu Hause ist für Klaus Gruber (Roland Riebeling) Bochum. Samt seiner Gattin Luise (Tanja Schleiff), dem leider keineswegs mehr unabsteigbaren Fußball-Bundesligisten VfL, der obligatorischen Currywurst zum frisch gezapften Fiege Pils. Und nicht zuletzt frisch aufgebrühtem Filterkaffee zum Frühstücksbrötchen. Zu lachen hat Klaus in der ersten Zeit, die er in Istanbul in einer kleinem Butze verbringt, wenn er nicht gerade wieder Überstunden schiebt als Fabrikarbeiter am Fließband, tatsächlich nichts. Aber mit dem Verlieben ist das so eine Sache, wenn man einige Gläser Raki intus hat, das Heimweh einfach nicht verfliegen will und eine so attraktive junge Türkin wie Ela (Raphaela Möst) auf dem Barhocker nebenan die schönsten Beine der Stadt am Bosporus präsentiert.

Anzeige: Spielwahnsinn 2024

Da kommt Luise gerade noch zur rechten Zeit – Familiennachzug lautet das Stichwort. Das heute wieder so aktuell ist wie in der Nachkriegszeit, als die Steinkohlezechen an Ruhr und Emscher, aber auch Fabriken wie Ford in Köln und Opel in Bochum händeringend Arbeitskräfte suchten – und diese nicht nur, aber vornehmlich in der Türkei fanden. Freilich nicht im aufgeklärt-multikulturellen Istanbul, wie uns das Schauspielhaus Bochum suggeriert, sondern im fundamentalistisch geprägten Innersten Anatoliens und am Schwarzen Meer. Was Auswirkungen bis in die dritte Generation heute hat, die nicht wirklich zum lachen sind.

Bochums Liederabend „Istanbul“, ursprünglich 2015 am Theater Bremen entwickelt vom gebürtigen Essener Akin E. Sipal, dessen preisgekröntes Debütstück „Vor Wien“ 2012 vom Westfälischen Landestheater Castrop-Rauxel uraufgeführt worden ist, zusammen mit dem Bochumer Musiker Thorsten Kindermann und der ehemaligen Bochumer Regieassistentin Selen Kara, dreht die Verhältnisse um und verlegt sie in unsere Gegenwart.

Der gerade auch dank eines hohen Anteils junger deutsch-türkischer Zuschauer hochemotionale, seit seiner mit Ovationen gefeierten Premiere am 20. Oktober 2017 in den Kammerspielen stets ausverkaufte Abend, beginnt mit dem Tod Klaus Grubers. Der inzwischen samt Familie längst heimisch geworden ist in Istanbul, aber verfügt hat, seine sterblichen Überreste in Bochumer Erde zu bestatten. Was seine Witwe Luise ebenso absurd findet wie Ismet (Daniel Stock), der beste Freund des Verstorbenen, der ihm über die Hürden der ersten Monate in der Fremde geholfen hat.

Thomas Rupert hat die Bühne vor Fototapeten der Blauen Moschee, der Istanbuler Skyline und des Leuchtturms am Bosporus ganz mit Teppichen ausgelegt. Ein Teil des Publikums nimmt, als Gäste der von Murat (Martin Weigel) geführten Bar, zu beiden Seiten und vorn an der nicht mehr vorhandenen Rampe Platz – und wird mit allerlei türkischen Spezialitäten für den Mut, selbst im Rampenlicht zu sitzen und damit Teil dieses rundum zauberhaften Abends zu sein, belohnt.

Der natürlich von slapstickhaften Culture-Clash-Momenten alltäglicher Tücken in der Fremde lebt, von sprachlichen und kulturellen Missverständnissen über das Überleben im vollgestopften Dolmus-Sammeltaxi-Bus bis hin zur junkiehaften Schmacht nach Mettwurst und Filterkaffee. Hier laufen Roland Riebeling, Daniel Stock, Raphaela Möst, Martin Weigel und die großartige Bochum-Debütantin Tanja Schleiff zu überragender Form auf.

In erster Linie aber ist Istanbul ein Liederabend, und was hier das sechsköpfige Ensemble zusammen mit dem im übrigen auch darstellerisch geforderten Musiker-Quartett Gregor Hengesbach, Torsten Kindermann, Koray Berat-Sari und Jan-Sebastian Weichsel leistet, kann selbst vor türkischsprachigem Publikum mehr als nur bestehen: Sie singen die zu Herzen gehenden, auf zwei seitlichen Monitoren ins Deutsche übersetzten Lieder der Königin des Bosporus, Sezen Aksu, im Original! Die auch Kleiner Spatz genannte Liedermacherin, die mit ihrem Pop-Song Everyway that I Can Sertab Erener 2003 zur bisher einzigen türkischen Gewinnerin des Grand Prix Eurovision machte, ist hierzulande einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden durch den Soundtrack des Films Crossing Bridges von Fatih Akin.

Anzeige: Glasfaser in Crange

In der Bochumer Produktion wechseln sich nun nachdenklich machende Balladen mit melancholischen Reminiszenzen und jubelnden Istanbul-Hymnen der heute Sechzigjährigen ab, die aus dem reichen Fundus ihrer Lebenserfahrung aus fünf Ehen schöpfen kann. Vier Liedtexte sind im Programmheft im Original und in deutscher Übersetzung abgedruckt, die jungen Deutsch-Türken im Publikum können sie alle auswendig und man wünscht sich wie auch beim anderen großen musikalischen Dauerbrenner des Schauspielhauses, „Bochum“, eine Live-Einspielung auf CD und DVD.

Vergangene Termine (1) anzeigen...
  • Freitag, 17. Mai 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann