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Kirsi (Elena Radonicich) und Armin (Hans Löw).

Neu im Kino

In My Room

Um die Liebe der letzten Menschen geht es in Ulrich Köhlers zweistündigem Porträt (s)einer Generation ohne existentielle Nöte, In My Room. Der Film stellt die Frage, ob wir die Freiheit, sich nicht festlegen zu müssen, nutzen bevor wir älter werden und damit der Raum des Möglichen enger wird. Er startet bundesweit am Donnerstag, 8. November 2018, und wird unter anderem im Casablanca Bochum gezeigt. Hektik in der Fraktionsebene des Deutschen Bundestages. Gerade hat Karl Lauterbach, der gesundheitspolitische Sprecher der SPD, vor laufenden Kameras sein Statement abgegeben, da hetzt die Journalistenmeute zur gegenüberliegenden Ecke des Berliner Reichstagsgebäudes, wo Sarah Wagenknecht bereitsteht, um die Version der Linken zu verkünden. Irgendwie geht es um Martin Schulz, den so grandios gescheiterten wie kalt abservierten sozialdemokratischen Hoffnungsträger. Armin (Hans Löw) meint alles im Kasten zu haben, als er seine Ausrüstung ins Studio seiner Sendeanstalt bringt. Doch der beruflich wie privat gestresste Kameramann hat nur Wackelbilder, die nicht zu verwenden sind, produziert und muss einen schon grenzwertig erscheinenden Anschiss seines Redaktionsleiters (Felix Knopp) ertragen.

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Seinen Frust versucht er daher in einem Tanzschuppen abzureagieren. „Ich glaube, wir müssen jetzt knutschen“: Das ursprünglich zu allem bereiten Madel, das er aus der Disco in sein Single-Heim abschleppt, überlegt es sich im letzten Moment anders. Was angesichts der matten Anmache ohne jede Romantik nicht weiter verwundert. Schon wieder ein Schuss in den Ofen für Armin, der sich offenbar nicht binden will. Was vielleicht auch mit seinem Elternhaus zusammenhängt, das im idyllischen Weserbergland liegt (gedreht wurde im Landkreis Lippe, vor allem in Vlotho): Sein Vater (Michael Wittenborn) lebt dort nach der Scheidung allein mit seiner pflegebedürftigen Mutter (Ruth Bickelhaupt), um die er sich rund um die Uhr kümmert. Ob Armin, der beim Besuch seiner geliebten Großmutter erstmals mit Lilo (Katharina Linder) die patente, als Gemeinderätin tätige neue Lebensgefährtin seines Vaters kennenlernt, zur Übernahme einer solchen Verantwortung bereit wäre? Bisher war es jedenfalls so, dass er seine Freiheit zu sehr geliebt hat, um sich nicht so lange wie möglich alle Optionen offen zu halten. Nun, da es mit der Oma offenbar zu Ende geht, stellt sich für Armin manche Frage nach der Zukunft neu. Weil seine Mutter in ihrer Wohnung eine Chorprobe abhält, zieht es ihn in der Nacht an die Weser, wo wie schon zu seiner Zeit junge Leute unter einer Autobahnbrücke abhängen und den tanzenden Passagieren eines Partyschiffs zuwinken.

Nach zwei, drei Dosen Bier von der Tanke schläft er in seinem Auto ein. Um am anderen Morgen in einer menschenleeren Welt zu erwachen. Das Schiff treibt steuerlos auf dem Fluss, die Tankstelle ist ebenso verlassen wie sein ganzer Heimatort – bis auf die gerade verstorbene Großmutter. Ihr Totenbett gestaltet Armin mit Papier und Büchern zu einem Scheiterhaufen für eine archaische Feuerbestattung, bei der schließlich das ganze Haus in Flammen aufgeht. Kein Wasser, kein Strom, kein Handynetz, nur Hundegebell ist aus der Ferne zu vernehmen. Armin flieht dieser apokalyptischen Situation in den Süden, aber auch die Mautstationen in den Alpen sind verwaist. Nachdem er in einem Tunnel mit einem Viehtransporter kollidiert ist, wobei er die Tiere in die Freiheit entlässt, nimmt er einen Polizei-Sportwagen und düst in rasender Fahrt (subjektive Kamera: Patrick Orth) durch menschenleere Dörfer. Plötzlich wieder zurück in heimischen Gefilden lebt dieser einst so hypernervöse Großstadtmensch in einer selbst gebauten Strohballen-Arche vor den Toren seiner Geburtsstadt inmitten einer vielfältigen Haustier-Menagerie: ein Selbstversorger, der den Kartoffelacker mit einem Pferdegespann pflügt, eine trächtige Ziege aus einem Waldloch befreit und einen Notstromgenerator mit Diesel aus dem unterirdischen Vorrat der Tankstelle am Laufen hält. Und dann gesellt sich zum offenbar letzten Mann dieser Welt mit Kirsi (die italienische Schauspielerin Elena Radonicich) die letzte und noch dazu junge, attraktive Frau: Adam und Eva im Paradies. Das Glück könnte vollkommen sein und dieser Arche ein neues Menschengeschlecht entspringen, allein die Vorzeichen haben sich verkehrt. Aus dem gehetzten Hauptstadtjournalisten ist ein sesshafter Bauer geworden, der in der ihm vertrauten Heimat eine Familie gründen will. Doch die abenteuerlustige Kirsi ist eine Ruhelose, eine Jägerin, die nur der Gegenwart verpflichtet ist und an keine Zukunft glaubt, schon gar nicht an eine neue Welt. Sie möchte sich nicht binden, ist ständig auf dem Sprung, will allenfalls Sex, aber auf keinen Fall ein Kind – und bricht bald wieder in ihren zum Camping-Van umgebauten MAN-Monstertruck auf…

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Die Protagonisten dieses überlangen Films, der in der Reihe Un Certain Regard bei den Filmfestspielen in Cannes uraufgeführt wurde, erleben eine Katastrophe und bekommen die Chance, ihr Leben neu zu gestalten. Aber sie schleppen ihre Vergangenheit mit sich und können nicht bei Null anfangen. Kirsis Glaube an die Liebe ist erschüttert und Armin hat noch nie mit einer Frau zusammengelebt… In My Room ist eine realistische Geschichte mit einer unrealistischen Prämisse – und, darauf legt Regisseur Ulrich Köhler (Bungalow 2002, Montag kommen die Fenster 2006, Schlafkrankheit 2011) größten Wert, kein Endzeitdrama. Sein Film will mit Humor von der Liebe der letzten Menschen erzählen, der offene Schluss hinterlässt nach 120 Minuten aber vor allem Ratlosigkeit. „Die menschenleere Welt“, so Köhler, „ist eine Versuchsanordnung, die der Frage nachgeht, ob wir – frei von sozialen Zwängen - zu einem Neuanfang in der Lage wären.“ Das Verschwinden allen menschlichen Lebens, ein nicht gerade originelles Filmsujet (Die Wand, Schwarze Spiegel), soll den Rahmen bilden für ein Experiment, das den Widerspruch zwischen individuellem Freiheitsdrang und dem menschlichen Grundbedürfnis nach Geborgenheit untersucht. Das Experiment ist im gleichen Ausmaß gescheitert wie der in zwei kaum miteinander zu verbindende Teile gespaltene Film.

| Autor: Pitt Herrmann