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Michel und Valerie sind ständig unter Beobachtung von Yassin .

Houellebecq zum Ersten: 'Plattform' in Bochum

„Die Kunst kann das Leben nicht verändern. Auf jeden Fall nicht mein Leben“: Michel, der Ich-Erzähler in Michel Houellebecqs 2001 erschienenem Roman Plateforme, der jetzt in Tom Blokdijks Bühnenfassung vom Bochum-Rückkehrer Stefan Hunstein verkörpert wird, ist ein recht desillusionierter Beamter im Pariser Kulturministerium. Der Mittvierziger hat gerade seinen Vater verloren. „Die widersprüchlichen Tendenzen der zeitgenössischen Videokunst, das Gleichgewicht zwischen Erhaltung des Kulturguts und Unterstützung des lebendigen Kunstschaffens … all das verschwand schnell vor der einfachen Magie sich bewegender Mösen“: Michel, beruflich eher der Buchhaltertyp, zappt sich daheim durch 128 TV-Kanäle und zieht sich auch noch Videos hinein, um sich von der Leere seines freud-, also: sexlosen Lebens abzulenken.

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Zur Weihnachtszeit geht’s naturgemäß nach Thailand: Tropic Thai, 15-tägige Rundreise, nur 20 Teilnehmer. Valerie (Karin Moog), eine äußerst attraktive 28-jährige Sekretärin in der Reisebranche, setzt sich ausgerechnet neben ihn, obwohl der Bus noch jede Menge freier Plätze bietet. Was Michel sogleich neue Perspektiven zu eröffnen scheint: „Meine Begeisterung für Mösen hatte nicht nachgelassen, ich sah darin sogar einen meiner letzten wirklich menschlichen Züge, der noch zu erkennen war; was das übrige anging, da wusste ich auch nicht so recht.“ So schnell lässt sich das Vorhaben mit der Landsfrau allerdings nicht realisieren, bis zum Rückflug passiert zwischen Michel und Valerie nichts, immerhin tauschen sie ihre Handynummern aus. „Ich befand mich in einer Welt unbeschwerten Begehrens und unbegrenzter Augenblicke der Lust“: Zurück in Paris beginnt sozusagen über Nacht eine eruptive Amour fou zunächst in Valeries Wohnung, bevor beide zusammenziehen. Ihr Chef Jean-Yves (Guy Clemens) steigt in der Unternehmenshierarchie auf, wird Geschäftsführer der Eldorador Club-Hotels und nimmt seine Sekretärin mit.

Zu dritt inspizieren sie ein schlecht laufendes kubanisches Club-Hotel. Michel hat die Idee, dem „Verkümmern der Sexualität in der westlichen Welt“ durch den hemmungslosen Einsatz willigen Frischfleischs aus der Dritten Welt zu begegnen: „Biete einen Club an“, rät er Jean-Yves, „in dem die Leute vögeln können.“ Denn: „Auf der anderen Seite gibt es mehrere Milliarden Menschen, die nichts haben, kläglich verhungern, jung sterben, unter ungesunden Bedingungen leben und nichts anderes mehr zu verkaufen haben als ihren Körper und ihre intakte Sexualität. (…) Das ist die ideale Tauschsituation.“ So werden die Eldorador Aphrodite Clubs gegründet und mit Hilfe eines deutschen Reiseveranstalters mit gigantischer Resonanz vermarktet. Zur Neueröffnung eines Clubs im thailändischen Krabi reist das Erfolgs-Trio an: Valerie gefällt es dort so sehr, dass sie ihren Chef um die Leitung dieses Clubs bittet. Und Michel ist sogleich bereit, seinen ungeliebten Pariser Beamtenjob an den Nagel zu hängen: „Die Kultur schien mir (…) eine notwendige Kompensation zu sein, die an das Unglück unseres Lebens gebunden war.“

Doch dann zerstören islamistische Rebellen das Paradies: 117 Tote, darunter auch Valerie. In Frankreich beendet eine Medienkampagne gegen Sextourismus das Aphrodite-Experiment, nach längerem Klinikaufenthalt bricht Michel die Verbindungen zur Heimat ab, um seine letzten Tage in Thailand zu verleben, allerdings ganz bewusst nicht in einer paradiesischen Idylle: „Nach Pattaya gibt es nichts mehr, es ist gleichsam ein Sammelbecken für den Abschaum, eine Kloake, in dem die unterschiedlichsten Rückstände der westlichen Neurose angeschwemmt werden.“ Hier schreibt der Desillusionierte, auf jegliches Begehren verzichtend, an einem, wie wir ahnen: an diesem Buch. Um nach dessen Fertigstellung bereit zu sein zum Sterben...

Der 330 Seiten umfassende Roman Michel Houellebecqs liest sich wie ein autobiographisch grundiertes höchst pessimistisches Gesellschaftsporträt der westlich-kapitalistischen Hemisphäre, das in seiner schonungslosen Offenheit politischen Sprengstoff birgt. Und das auch deshalb, weil der 1958 in La Reunion geborene, in Irland lebende Autor der auch in Deutschland erfolgreichen Romane Ausweitung der Kampfzone, Elementarteilchen und Unterwerfung mit großem Zynismus und unter Verwendung einer obszönen Trivialsprache den kommerziellen Sex als einzige Überlebensstrategie im konkurrenzlosen, also letztlich alternativlosen Kapitalismus anpreist. Weil die große, die einmalige Liebe, die in Plattform ganz unerwartet dem Ich-Erzähler Michel begegnet, doch nur ein Wunschtraum bleiben muss. Tom Blokdijks Bühnenfassung hatte zuerst 2005 am NTGent in Belgien Premiere in der knapp zweistündigen Inszenierung des neuen Bochumer Schauspielhaus-Intendanten Johan Simons. Für seine Neuauflage an der , Premiere des Houellebecq-Doppels mit Unterwerfung war am 19. Januar 2019, konnte Simons auf das Bühnenbild des 2015 überraschend im Alter von nur 54 Jahren verstorbenen Co-Leiters der Berliner Volksbühne, Bert Neumann, und für diverse Rock-Rollen auf den belgischen Schauspieler Mourad Baaiz zurückgreifen.

Simons beginnt mit dem blutigen Attentat in Krabi: vom Schnürboden knallt gefühlt tonnenweise Zivilisationsmüll auf Neumanns kastenförmige Spielfläche, der Luftaufnahme einer nicht näher identifizierbaren Stadt-Landschaft. Ein Knalleffekt, mit stoischer Gelassenheit beobachtet von einem jungen, beinahe nackten Mann mit martialischem Patronengürtel – und langen blonden Jesus-Locken: Lukas von der Lühe verkörpert die hinzuerfundene Figur Yassin. Zum einen der Mörder von Michaels Vater, zum anderen der Attentäter von Krabi, später aber auch im goldglänzenden Rich-and-Famous-Shirt ein kassandrahafter Mahner, der mit horriblen Alltags-Nachrichten die euphorischen Sextourismus-Visionen Michels konterkariert. Der wird von einem großartigen Stefan Hunstein gespielt, der zuletzt 1990 in der Steckel-Ära auf Bochums Brettern stand als Major Ferdinand in Urs Trollers Schiller-Inszenierung „Kabale und Liebe“: Ein Michel, der nicht nur bezüglich Habitus und Frisur dem Autor Houellebecq sehr nahe kommt, sondern auch in der ironischen Doppelbödigkeit seines Spiels, einem permanenten Wechsel von erzählenden und dialogischen Passagen. In der herrlich lockeren, brechtisch-verfremdeten, dabei aber immer wieder sehr witzigen Interaktion mit der nicht weniger grandiosen Bochum-Rückkehrerin Karin Moog ziehen die Protagonisten gegenüber der Romanvorlage eine zusätzliche kommentierende Ebene ein.

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Die Schwüle der im Roman ständig wiederholten minutiösen Schilderungen des vom offenbar stark neurotischen Romancier imaginierten lustvollen Austausches von Körperflüssigkeiten ist hier völlig verschwunden: Ist vom Ausziehen die Rede, helfen sich die Schauspieler gegenseitig beim Ankleiden. Und beim flotten Dreier im Ferienclub zupft Hunstein einfach am Bart von Mourad Baaiz, der zuvor bereits in der Rolle des marokkanischen Hausmädchens Aisha, der Geliebten von Michels Vater, glänzte. Mercy Dorcas Otieno komplettiert als in jeder Hinsicht starke Frau, Jean-Yves‘ selbstbewusste Gattin Audrey, ein tolles Ensemble, das scheinbar spontan improvisierend mehrfach augenzwinkernd mit dem Parkett kommuniziert, wenn es nicht gerade in den Plastik-Überresten unserer kapitalistischen Überflussgesellschaft herumstolpert. Diese vielschichtige Metapher für den Zustand unserer Welt bildet auch die Ausstattungs-Grundlage für die zweite Houellebecq-Dramatisierung Unterwerfung am gleichen Haus.

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  • Sonntag, 27. Januar 2019, um 16 Uhr
  • Dienstag, 29. Januar 2019, um 19:30 Uhr
  • Donnerstag, 7. Februar 2019, um 20 Uhr
  • Sonntag, 17. Februar 2019, um 16 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann