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Godehard Giese, Anne Ratte-Polle und Ogulcan Arman Uslu in: Es gilt das gesprochene Wort

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Es gilt das gesprochene Wort

„Austausch der Ringe und eine entsprechende Geste“ erwartet in überspitzt formuliertem Bürokratendeutsch die Standesbeamtin von Marion Bach (Anne Ratte-Polle) und ihrem nunmehrigen Gatten Baran (preisgekröntes Leinwand-Debüt: Ogulcan Arman Uslu), den sie aus dem Türkei-Urlaub nach Hamburg mitgebracht hat. Und der kein Deutsch versteht, weshalb die mit der Einbürgerung in die Europäische Union verbundene Trauungs-Zeremonie wörtlich übersetzt werden muss. Schnitt. Rückblende.

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I. Ich war. Ein junger Mann, der 23-jährige Baran, ist per Autostopp aus dem kurdischen Hinterland der Türkei unterwegs an die Ägäisküste. Und wird nachts am Strand um seine letzten Habseligkeiten gebracht. Er sucht Arbeit, erst auf dem Basar, dann in den Touristenlokalen von Marmaris. Und findet einen schlecht bezahlten Job als Tellerwäscher, mutiert bei Bedarf aber nahtlos zum Kellner und Eintänzer rasch begeisterter zahlungs- und sexwilliger weiblicher Feriengäste. Der attraktive Entertainer, der auf den Tischen tanzt und mit beleibten älteren Damen ins Bett steigt, wird zu einer richtigen Attraktion. Kommt ihm einmal eine begehrenswerte Europäerin unter wie eine junge Belgierin, bittet er sie, ihn pro forma zu heiraten, damit er Bürger der EU werden kann. Naturgemäß geht niemand auf seinen Wunsch ein. Auch die toughe deutsche Flugkapitänin nicht, die er vor den Zudringlichkeiten anderer Eintänzer schützt – zum eigenen Schaden.

Zurück in der Heimat gibt Marion dem Chef des Bodenpersonals am Hamburger Airport, Mark (Jörg Schüttauf), der stets ein besonders liebevolles Auge auf sie wirft, ein kitschiges Souvenir für dessen Frau mit. Als sie beim Joggen im Wald plötzlich Nasenbluten bekommt und zur Untersuchung in eine Klinik fährt, erhält die selbstbewusste Karriere-Frau eine niederschmetternde Nachricht: Brustkrebs. Vor der unvermeidlichen Totaloperation will Marion noch einen luxuriösen Urlaub in einem Fünf-Sterne-Hotel in Marmaris verleben - mit ihrem Freund Raphael (Godehard Giese), der verheiratet ist und ihr offenbar schon mehrfach versprochen hat, sich von seiner Familie zu trennen. Folgenlos. So ist sie bereit für Barans Dienste – und hinterlässt ihm am Ende immerhin ihre Handynummer.

II. Du bist. Raphael, Konzertmusiker in der Elbphilharmonie, wacht an Marions Bett, als sie nach der Operation in der Klinik aufwacht. Und empfindet es als Schlag ins Kontor, als ihm seine langjährige Geliebte offenbart, bald heiraten zu wollen. Nein – nicht ihn, Raphael ist ja schon unter der Haube und außerdem glücklicher Vater. Sie hat mit Baran geschrieben, ihm ein Visum besorgt – und ein kleines studentischen Appartement. Der Deal: Er hat drei Jahre nach der Eheschließung Zeit, die notwendigen Voraussetzungen für seine Einbürgerung, die mit dem deutschen Pass verbunden ist, zu erfüllen. Ein anstrengendes Programm, das mit Sprachkursen und der Arbeitssuche beginnt. Ohne Führerschein sind aber nur prekäre Jobs drin, auf Drängen Marions erhält er eine Anstellung auf dem Hamburger Flughafen. Sein Landsmann Ferdi (Özgür Karadeniz) weist ihn ein und erlaubt ihm, einen Werkzeugkoffer mit nach Hause zu nehmen, angeblich um Einrichtungsarbeiten in der Wohnung ausführen zu können. In Wirklichkeit hat sich Baran mit seinen jungen Nachbarn angefreundet, repariert geklaute Fahrräder und vertickt sie auf Flohmärkten.

III. Wir werden sein. Baran und Marion kommen sich endlich, nach einem gemeinsamen Konzertbesuch in der Elbphilharmonie, näher. Weil sie ihre Angst, nach der Brust-Operation nicht mehr attraktiv genug zu sein für einen Mann, noch gar einen rund 20 Jahre jüngeren, überwunden hat. Noch 18 Monate bis zum deutschen Pass. Zur Ablegung des Führerscheins benötigt Baran eine Brille und Marion zeigt sich beeindruckt von seinem Willen, das Ziel zu erreichen. Gleichzeitig ist sie eifersüchtig auf seine junge Nachbarin. Als Baran fälschlicherweise beschuldigt wird, Passagiergepäck gestohlen zu haben, kommen die Sache mit dem Werkzeugkoffer und sein kleiner Nebenverdienst heraus. Baran fühlt sich unverstanden, kehrt in die Türkei zurück und erhält aufgrund seiner inzwischen erworbenen Sprachkenntnisse und seinen beruflichen Erfahrungen in Hamburg einen gutbezahlten Job auf einem Flughafen. Im dortigen Restaurant sitzt eine hochschwanger Marion. Wird sie sich ihm zu erkennen geben?

Gegensätzlicher könnten die Lebenswelten der beiden Protagonisten in Ilker Cataks erst zweitem Spielfilm „Es gilt das gesprochene Wort“ kaum sein, als sie sich am Strand von Marmaris zum ersten Mal begegnen: eine selbstbewusste, unabhängige Pilotin aus Deutschland trifft auf einen charmanten Aufreißer wider Willen, der von einem vor allem materiell besseren Leben im Schengen-Raum träumt. Basierend auf dem gleichnamigen Jugendbuch von Nils Mohl hatte der 1984 in Berlin geborene Deutsch-Türke Ilker Catak 2017 mit „Es war einmal Indianerland“ ein eindrucksvolles Spielfilmdebüt hingelegt, nachdem er 2014 mit den Kurzfilmen „Wo wir sind“ und „Sadakat“ den Max-Ophüls-Preis, mit Letzterem auch den First Steps Award und den Studenten-Oscar gewann.

Sein neuer Film mit Nils Mohl als Ko-Autor ist am 28. Juni 2019 auf dem Filmfest München uraufgeführt worden. Dort erhielten nicht nur die beiden Drehbuchautoren den Förderpreis Neues Deutsches Kino, sondern im Bereich „Schauspiel“ auch die Entdeckung Ogulcan Arman Uslu. Der 1972 in Istanbul geborene Schauspieler am Staatstheater Ankara und Stadttheater Bursa brilliert in seiner ersten Leinwand-Hauptrolle als Baran an der Seite des nicht weniger großartigen Theaterstars der Berliner Volksbühne und des Zürcher Schauspielhauses, Anne-Ratte Polle, in einem gut zweistündigen Film, der endlich aus dem Multikulti-Wohnfühl-Ghetto deutscher Komödienproduktionen ausbricht und das Publikum nur mit einem leisen Hoffnungsschimmer auf ein gutes Ende aus dem Kinosessel entlässt.

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Melika Foroutan, Claudia Steffen und Alfred Holighaus in der Jury-Begründung zum Förderpreis Neues Deutsches Kino 2019: „In diesem Film gilt das gesprochene Wort besonders viel, weil es in der Erzählung der sprachlichen Entwicklung der männlichen Hauptfigur Baran mit Bedacht gewählt und präzise angewendet wird und weil es der weiblichen Hauptfigur Marion die Möglichkeit bietet, sich in ihrer komplexen emotionalen und sozialen Befindlichkeit klar zu behaupten und stark zu artikulieren. Nach einer außergewöhnlich klaren Exposition schafft es das in drei dramaturgisch und inhaltlich sinnhafte Kapitel unterteilte Drehbuch, Klischees zu vermeiden, mit klugen Wendungen zu überraschen, jeder Figur – auch in den Nebenrollen – eine erkennbare und interessante Geschichte zu schenken.“ Diese ungewöhnliche Liebesgeschichte startet am 1. August 2019 bundesweit in unseren Kinos und ist unter anderem im Union Bochum, in der Schauburg Dortmund und im Essener Filmstudio Glückauf zu sehen.

| Autor: Pitt Herrmann