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Die Macht des Schicksals´- Showdown: Bastiaan Everink, Petra Schmidt und Timothy Richards.

Höchst umstrittener Verdi-Abend in Gelsenkirchen

ENTFÄLLT!!! Die Macht des Schicksals

Gelsenkirchen. In seiner, so der Komponist Giuseppe Verdi (1813 – 1901) über „La forza del destino“, ersten Oper einer neuen Art steht nicht mehr die möglichst wirkungsvolle Abfolge von Musiknummern im Mittelpunkt, sondern die Darstellung von Ideen: Ist es doch die Macht des Schicksals, die in dem am 10. November 1862 im Kaiserlichen Opernhaus St. Petersburg uraufgeführten Vierakter das Leben nicht nur der Protagonisten, sondern das ganzer Völker bestimmt. In der düstersten aller Opern Verdis, eine Auftragsarbeit des russischen Zarenhofes für den Petersburger Impresario Mauro Corticelli und seinen berühmten Tenor Enrico Tamberlik, bestimmen geradezu aberwitzige Zufälle das Leben dreier hoffnungsvoller junger Menschen, die durch einen tödlichen Unglücksfall aus ihrem – aus heutiger Sicht freilich nur scheinbar - geordneten Dasein gerissen werden.

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Verdis Landgut Sant'Agata - in der Gemeinde Villanova sull’Arda, Provinz Piacenza, Region Emilia-Romagna.

Die Macht des Schicksals entstand auf Verdis Landgut Sant'Agata in politisch brisanter Zeit: der Patriot Verdi, der sich nach dem für Habsburg verlorenen Krieg gegen das Königreich Sardinien-Piemont für ein neues vereinigtes Königreich Italien einsetzte, vertrat bis zur Wahl Vittorio Emanueles im Jahr 1865 als Abgeordneter seinen Heimatort Busseto im italienischen Parlament. Wahrscheinlich erklärt sich so Verdis Sicht auf eine Menschheit, die unfähig ist, sich aus Konventionen und Traditionen zu befreien. Ja, die den Einzelnen in der Masse als unfähig erachtet, sich der aus dem Krieg resultierenden Spirale aus Hass und Verrohung zu befreien. Heute steht nur noch die überarbeitete Mailänder Fassung, uraufgeführt am 20. Februar 1869 im Teatro alla Scala, auf den Spielplänen, so auch am Gelsenkirchener Musiktheater in einer dreieinhalbstündigen Neufassung von Giulano Betta und Michael Schulz.

Die Macht des Schicksals - Surrealer Totentanz: Statisterie, Opernchor und Extrachor.

Nach dem unglücklichen Tod ihres Vaters Marchese di Calatrava (der kroatische Bass Luciano Batinic) versuchen Leonora di Vargas (eine stark geforderte und dabei sehr sichere Petra Schmidt) und ihr Geliebter Don Alvaro (der walisische Tenor Timothy Richards mit wallendem Haar einer genialischen Künstlerfigur) vor dem Schicksal in Person ihres Bruders Don Carlo di Vargas (der niederländische dramatische Bariton Bastiaan Everink) zu fliehen. Hat er doch blutige Rache für den angeblichen Mord geschworen, um die Ehre der spanischen Adelsfamilie wiederherzustellen. Denn Don Alvaro stammt weder aus derselben gesellschaftlichen Schicht wie die Familie Vargas noch ist der adlige Spross eines südamerikanischen Inka-Geschlechts überhaupt ein Spanier. Das Schicksal will es, dass sich die Wege der Kontrahenten beiderseits unerkannt kreuzen und Alvaro Leonoras Bruder das Leben rettet. Als Don Carlo Alvaro aufspürt im Kloster des Padre Guardinano (ebenfalls Luciano Batinic), für die in einer Klause eremitisch lebende Leonora eine zweite Vaterfigur, kommt es zum finalen Showdown...

Verdi auf seinem Sockel vor dem Opernhaus in Busseto, dem Teatro Giuseppe Verdi.

Frank Castorf hat zuletzt an der Deutschen Oper Berlin die Volkszenen, bei denen sich Verdi aus Friedrich Schillers Wallensteins Lager bediente, vom spanischen Bürgerkrieg ausgehend im faschistischen Italien Benito Mussolinis angesiedelt in einer an selige Volksbühnen-Zeiten erinnernden multimedialen Collage mit Texten Heiner Müllers auf einer Film-Bühne zwischen Schlachtfeld und Gotteshaus. Auch in Gelsenkirchen spielt sich die Handlung, im variablen, vergleichsweise geradezu erholsam-minimalistischen Bühnenbild Dirk Beckers, abwechselnd im Feldlager und im Kloster ab. Michael Schulz löst die Akt-Struktur auf und stellt Szenen um mit dem Ziel, die verschiedenen Handlungsstränge anschaulicher zu machen. Wozu er auch fremde Zwischenmusiken einbaut aus Claudio Monteverdis Marienvesper und Verdis Messa da requiem: Beim Dies irae, dies illa bricht der Zorn Gottes unmittelbar auf das in volles Saallicht gehüllte Parkett nieder. Das so unmittelbar einbezogen wird neben der Konfrontation mit dem in Alltagsklamotten (Kostüme: Renee Listerdal) gewandeten Chor, der beobachtend und gestisch-mimisch kommentierend auf einer Tribüne sozusagen dem Publikum gegenübersitzt und auch den Part des Geräuschemachers übernimmt.

Am 22. Februar 2020 feierte Die Macht des Schicksals unter der musikalischen Leitung von Giulano Betta in der Inszenierung von MiR-Intendant Michael Schulz die höchst umstrittene Premiere im Großen Haus: die „Brava“-Rufe für die großartigen Gesangssolisten, noch zu nennen die georgische Mezzosopranistin Khatuna Mikaberizde für die erkrankte Almuth Herbst als eher Unheil verkündende Kassandra denn wie bei Verdi junge Zigeunerin Preziosilla („Viva la guerra!“) sowie Piotr Prochera als Bruder Melitone, und die Neue Philharmonie Westfalen hielten sich die Waage mit den „Buh“-Rufen für das Leitungsteam beim ersten Erscheinen an der Rampe. Solch einen Sturm der Entrüstung hat es schon seit gefühlt zwanzig Jahren nicht mehr am Kennedyplatz gegeben.

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Was gar nicht ‘mal der inhaltlich stringenten Verschränkung der Schicksalswege von Leonora, Don Alvaro und Don Carlo geschuldet ist, welche den Fokus auf die Ursache des Grundkonfliktes richtet – die Furcht vor dem Fremden. Sondern der Tabubruch der dramaturgisch durchaus sinnvollen Umstellung der Ouvertüre nach dem vermeintlich tödlichen Schuss auf Leonoras Vater. Und verstörenden Bildfindungen entgegen der Aufführungstradition, die noch in den 1950er Jahren als blasphemisch empfunden worden wären. Wie gleich zu Beginn die Erhebung Leonoras zur Marienfigur, zur barocken Schmerzensmutter mit Herz im Strahlenkranz, dessen Strahlen aus Messern bestehen, welche nach und nach ins plakativ ausgestellte Plüsch-Kissen gestochen werden. Auch die spätere Fußwaschungs-Szene gehört in diese Kategorie. Kindersoldaten werden in die Schlacht geschickt, maskierte Kuttenträger geben sich martialisch wie die christlichen Kreuzritter bei ihrem Marsch auf Jerusalem, das Klosterleben könnte im Mittelalter nicht düsterer sein und beim chorischen „Rataplan“ werden die USA mit einer stilisierten Freiheitsstatue als globale Kriegstreiber angeprangert. Bis hin zum Totentanz a la A. Paul Weber mit einem Gasmasken-Todesengel und dem Posaunen-Raumklang vor dem finalen Pistolenduell geht es bei aller Stimmigkeit im Detail allzu ein-eindeutig zu.

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  • Freitag, 6. März 2020, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 14. März 2020, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 21. März 2020, um 19:30 Uhr
  • Sonntag, 29. März 2020, um 18 Uhr
  • Sonntag, 5. April 2020, um 15 Uhr
  • Samstag, 18. April 2020, um 19:30 Uhr
  • Samstag, 25. April 2020, um 19:30 Uhr
| Quelle: Pitt Herrmann