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Sandra Hüller als Jeanne d'Arc.

Heiner-Müller-Pasticcio mit Sandra Hüller

Embedded Hydra

Warnung: Auf diesen 75-minütigen Abend in den Kammerspielen des Schauspielhauses Bochum, der am Freitag (11. 10. 2019) umjubelte Uraufführungs-Premiere feierte, muss man sich einlassen. Was nicht an der temporären kompletten Finsternis im Parkett ohne jeden Notlicht-Schimmer liegt, wir sind ja nicht in Salzburg, auf den im Foyer hingewiesen wird. Sondern an dem „musik-theatralen Abenteuer“ einer Heiner-Müller-Aneignung, die seinen Herakles-Text von 1973 aus dem „Zement“-Kontext löst und nicht nur in andere Texte des DDR-Autors zu antiken Mythen einbettet, sondern auch in (Selbst-) Reflektionen über die Arbeit und speziell die auf Bühnenbrettern.

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Herakles, mit übermächtiger Kraft gesegneter Sohn von Zeus und Alkmene, hat beide Kinder, die er mit Kreons Tochter Megara hatte, getötet. Zur Buße legt ihm das Delphische Orakel zwölf als „Herkulesaufgaben“ zum Sprichwort gewordene „Arbeiten“ auf, wovon die zweite, die Tötung der neunköpfigen Hydra, Thema des Prosatextes „Herakles 2 oder die Hydra“ Heiner Müllers ist – vordergründig. Denn die Parabel, ein Intermedium seines Stücks „Zement“ nach dem gleichnamigen Roman von Fjodor Gladkow, ist eine metaphorische Schilderung des Kampfes zwischen den Idealen der Revolution und den Unbilden der Bürokratie wie der menschlichen Unzulänglichkeit. Georg-Martin Bode, kahler weißer Schädel und schwarzes Gewand, rahmte mit diesem Monolog Frank-Patrick Steckels „Zement“-Inszenierung, die am 22. Februar 1992 im Schauspielhaus Bochum Premiere feierte, im Hightech-Fadenkreuz moderner Kriegsmaschinen als ganz aktuelle Mahnung vor einer Aufrüstung, die von den Menschen nicht mehr beherrscht werden kann.

Wimmelbild mit (v.l.) Moritz Bossmann, Sandro Tajouri, Sandra Hüller und Michael Graessner.

In den Kammerspielen geht’s nach einigen Müller-Sätzen gleich über ins Making-of. Sandra Hüller und ihre Mitstreiter, die Musiker Moritz Bossmann und Sandro Tajouri, besprechen ihr weiteres Vorgehen und intonieren ein altes Volkslied mit der auch in der „Hydra“ auftauchenden Zeile: „An meinem Herzen ist der schönste Ort.“ Da setzt sich die Krokodil-Attrappe, bislang einziges Requisit der leergeräumten Bühnenmitte, in Bewegung. Und der Dritte im Hüller-Bunde, der Bühnenbildner Michael Graessner, beginnt damit, pausenlos Mobiliar hereinzuschleppen: körperliche Arbeit auf den Brettern ist in der Malocherstadt Bochum schon immer vom Theaterpublikum goutiert worden. Hier aber geht’s ums Konzeptionelle. Zweifache „Schauspielerin des Jahres“ und Trägerin des deutschen Bühnen-Oscars „Faust“: Was soll da noch kommen? Zumals es ja auch für sie auf der Leinwand, Europäischer Filmpreis für „Toni Erdmann“, nicht besser laufen könnte. Sandra Hüller posiert als rosafarbene Bonbonniere und als bettlakenschwingende Jeanne d'Arc, später als Atlas, der den Trumm von Bühnenhimmel auf seine Schultern nimmt. Und spricht trotz Mikroport-Verstärkung eher zu sich selbst als zum Publikum.

Begibt sich Sandra Hüller etwa auf die Spuren Anne Tismers, die Mitte der 1990er Jahre an der Seite Jürgen Kruses bei Leander Haußmann an der Bochumer „Kö“ glänzte, danach in München, Wien und an der Berliner Schaubühne zum Theaterstar avancierte, um sich 2003 nach der Wahl zur „Schauspielerin des Jahres“ ganz vom konventionellen Subventionstheater zu verabschieden und sich als freie (Kunst-) Performerin zu verwirklichen? Da sei Johan Simons vor, der dieser Hochbegabten auch für sperrige Produktionen wie die Herrndorf-Adaption „Bilder deiner großen Liebe“, die übrigens am 28. November 2019 wiederaufgenommen wird, Freiräume öffnet – und das nicht draußen in der „Zeche 1“, sondern in den Kammerspielen. Ja, diese „Hydra“ ist für einige Besucher eine Provokation – und, zumindest am Premierenabend, eine Herausforderung, tolerant zu sein zu denjenigen, die nach einer Stunde vorzeitig das Weite suchen und sich den Weg durch die Parkettreihen im wahren Wortsinn erkämpfen müssen. Theater, so Sandra Hüller prophetisch einige Minuten zuvor, könne auch als Projektionsfläche für die Unzufriedenheit des Publikums dienen.

Wer gegangen ist, verpasst den Höhepunkt. Nachdem ein Betonmischer zusätzlich zur Musik genannten dröhnenden Dauerbeschallung für ohrenbetäubenden Krach gesorgt hat, spricht Sandra Hüller in die paradiesische Stille hinein den Text über Herkules, der auf dem Weg, das Tier, das Monstrum zu schlachten, einen Wald durchschreitet, in dem sich die Bäume wie Schlangen bewegen und der Boden Wellen schlägt. Und es ihm scheint, als würde er in die „Eingeweiden der Welt“ hereingezogen. Mit der Einsicht, dass „nur durch die gänzliche Vernichtung des Tieres“ der Sieg erkämpft werden kann, bei Müller noch Metapher für die Notwendigkeit der (selbst-) zerstörerischen Wucht von Revolutionen, erkennt Herakles am Ende den Wald als Tier und sich selbst als den eigenen Feind, den es zu bekämpfen gilt.

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Heiner Müller, der mit dem „Hydra“-Text seine Schreibblockade des Auftragswerkes „Zement“ durchbrach, schrieb nach der Uraufführung durch die BE-Intendantin Ruth Berghaus 1973 in einer „Anmerkung“: „Der Hydratext kann nur als Vorgang begriffen werden, das heißt, wenn, mit welchen Mitteln auch immer (Pantomime, Schriftfilm, Ton), die Einheit (Gleichzeitigkeit) von Beschreibung und Vorgang dargestellt wird (was die bloße Rezitation nicht kann).“ Sandra Hüller rezitiert nicht, sie eignet sich den Textblock reflektierend an, akzentuiert, setzt Betonungen, gliedert die geradezu Jelineksche Atemlosigkeit durch Pausen. Und macht ihn so auf beglückende Weise fürs Publikum (und offenbar auch einige Theaterleute) verständlich.

| Autor: Pitt Herrmann