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v.l. Sven Gey, Philine Bührer, Bernhard Glose und Kinga Prytula.

Der Gott des Gemetzels am Prinzregenttheater

Berlin in unseren Tagen. Der beruflich stark geforderte Wirtschaftsanwalt Aaron Hardenberg (egomanischer Handy-Junkie: Bernhard Glose) und seine Gattin, die Vermögensberaterin Katharina (leidensfähig bis zur Schmerzgrenze: Kinga Prytula), haben offenbar besseres zu tun, als sich auf den Weg zu einem Anstands-Pflichtbesuch zu begeben. Aber ihr elfjähriger Sohn Ferdinand hat dem gleichaltrigen Klassenkameraden Bruno im Eifer des Gefechts auf dem Helmholtzplatz im angesagten Szenebezirk Prenzlauer Berg zwei Schneidezähne ausgeschlagen, und das auch noch mit einem Stock! Das riecht förmlich nach Neukölln – und darf keinesfalls so stehen bleiben. Man ist schließlich gutbürgerlicher Herkunft, hat eine humanistische Bildung genossen, spendet regelmäßig für die Dritte Welt und steht neben der politischen auch für pädagogische Korrektheit.

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So soll der naturgemäß allseits bedauerte Vorfall in aller Ruhe besprochen werden bei den Eltern des Opfers, Jasper Bergmann (selbstbewusster Haushaltsgeräte-Verkäufer: Sven Gey) und seiner Gattin „Lou“ Luisa (beinahe tragisch-ernsthaftes Gutmenschentum: Philine Bührer). Sachlich soll es zugehen, vor allem aber tolerant. Man war ja schließlich selbst einmal jung. Doch die erste Katastrophe lauert schon vor Beginn der Aussprache: Der sich so aufgeräumt gebende Jasper hat in der vergangenen Nacht den nervtötenden Hamster seiner Tochter einfach vor die Haustür gesetzt und muss sich jetzt als kaltblütiger Mörder beschimpfen lassen. Und das keineswegs nur von seiner dominanten – und dazu noch intellektuellen - Gattin, die gerade wieder an einem ganz bedeutenden Afrika-Buch schreibt...

Mit Der Gott des Gemetzels hat Yasmina Reza die Basis für großes Schauspielertheater gelegt. Wenn die Besetzung so rundherum stimmt wie in Jürgen Goschs Züricher Uraufführungs-Inszenierung vom 2. Dezember 2006 mit Michael Maertens und Tilo Nest, Corinna Kirchhoff und Dörte Lyssewski oder in Burghart Klaußners Deutscher Erstaufführung im Sommer 2007 am Schauspielhaus Bochum mit Klaus Weiss und Felix Vörtler, Imogen Kogge und Ulli Maier. Denn wie zuvor auch die anderen Stücke der stets unter Boulevard-Verdacht stehenden französischen Erfolgsautorin Yasmina Reza, Kunst etwa und vor allem Drei Mal Leben, bedarf Le Dieu du Carnage erstklassiger Darsteller, denen es ganz unmerklich gelingt, den diabolischen Humor der Autorin und die tiefen Abgründe unter der sehr glatten Oberfläche des von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel ins Deutsche übertragenden Textes freizulegen.

In dieser immer wieder auch an Edward Albees Wer hat Angst vor Virginia Woolf? erinnernden Zimmerschlacht löst sich die offenbar nur hauchdünne Schicht bürgerlicher mitteleuropäischer Kultiviertheit binnen weniger Minuten auf, in denen sich die Grenzen zwischen Zivilisation und Barbarei zunehmend verwischen. Die Gespräche laufen aus dem Ruder, aus Gereiztheiten werden handfeste Vorwürfe und nach einigen Gläsern Single Malt brechen sämtliche Dämme der Wohlanständigkeit ein. Wobei es zu stets wechselnden Allianzen kommt: Verteidigung des eigenen Kindes wie der eigenen Familie gegen Angriffe der Gegenseite, Frauen-Solidarität gegen die Männer, Männer-Verbrüderung gegen die Frauen, Emanze gegen Schlappschwanz, frustrierte Gattin gegen dauertelefonierenden Handy-Junkie, Apfel-Birnen-Clafoutis gegen Oskar Kokoschka-Bildband.

Mit Der Gott des Gemetzels feierte am 13. Juni 2019 die vierte und letzte Eigenproduktion im ersten Übergangsjahr des Prinzregenttheaters Bochum umjubelte Premiere vor ausverkauftem Haus, inszeniert von Oliver Paolo Thomas als Gast und künftiger Kooperationspartner vom Bochumer Rottstr5Theater mit einem grandiosen Schauspieler-Quartett aus Absolventen der Folkwang-Hochschule in der kongenialen Ausstattung des Regisseurs, welche das Publikum unmittelbar ins Bühnengeschehen einbezieht. Während Küche und Bad im Hintergrund durch wenige von der Decke hängende weiße Requisiten angedeutet werden, ragt der lange Wohnzimmertisch der Gastgeber-Familie Bergmann mit Blumenvasen, Gläser-Set, Zeitschriften und Kunstbänden, an dem die beiden Paare ein gemeinsames Statement zum Vorfall im Apple-Tablet konzipieren, bis in die erste Parkettreihe hinein. Die Zuschauer sollen, so Thomas, „zu Betroffenen des Geschehens werden, um sich selbst darin wiederzufinden.“

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Den Regisseur und in der Nachfolge Hans Drehers designierten Leiter des Rottstr5Theaters Bochum ab Herbst 2019 interessiert „an Rezas klugen Dialogen, wie die Figuren sich langsam selbst dekonstruieren und die erwachsenen Ehepaare immer mehr in die archaisch-cholerischen, kindlichen Verhaltensmuster rutschen, die sie an ihren Zöglingen kritisieren. Für mich ist es ein Stück über das Kind in uns und über prätentiöses Erwachsensein.“ Oliver Paolo Thomas, der die Vorlage von Paris nach Berlin verlegt und aus den Houilles und Reilles die Bergmanns und Hardenbergs gemacht hat, kann auf ein bestens aufgelegtes, spielfreudiges und sehr erfahrenes Ensemble bauen. Mit dem Kölner Sven Gey, in Jan Bonnys Wintermärchen auch auf der Kino-Leinwand zu erleben, mit dem Wuppertaler Bernhard Glose, der in Dominik Grafs Kinofilm Das Gelübde zu sehen war und vier Jahre zum Ensemble der Städtischen Bühnen Münster gehörte. Mit der gebürtigen Hamburgerin Philine Bührer, die sechs Jahre am Theater Bonn fest engagiert war und nach Atmen, Die Zofen sowie Extremophil bereits zum vierten Mal am PRT gastiert. Und schließlich mit der in Posen geborenen, in Witten aufgewachsenen und jetzt wie Philine Bührer in Bochum lebenden Kinga Prytula, die fest am Schlosstheater Moers engagiert war, aber auch am Schauspielhaus Bochum (Eine Sommernacht) und an der Rottstraße (Krieg) spielte. Am PRT brilliert sie weiterhin in der Titelrolle des Stücks Die Frau, die gegen Türen rannte, mit dem sie am 22. Juni 2019 auf Einladung der 8. Hamburger Privattheatertage in den Kammerspielen der Hansestadt gastiert.

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  • Sonntag, 23. Juni 2019, um 18 Uhr
  • Donnerstag, 27. Juni 2019, um 19:30 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann