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Renate Sommer.

Brief aus Straßburg

Dr. Renate Sommer, die Europaabgeordnete für das Ruhrgebiet, schickte uns ihren letzten Brief aus Straßburg: „Bei diesem Straßburgbrief handelt es sich wieder um eine Doppelnummer, denn in diesem März tagte das Europäische Parlament gleich zweimal in Straßburg. Das war notwendig, weil wir nach den Europäischen Verträgen dazu verpflichtet sind, 12x jährlich in Straßburg zu tagen, in diesem Europawahljahr aber im Juni und August keine Plenartagungen möglich sind. So haben wir nun schon die Juni-Tagung „abgearbeitet“, und die August-Tagung wird dann, wie in jedem Jahr, im Herbst nachgeholt. Die Themenfülle in diesen März-Plenartagungen war riesig, und ich kann hier natürlich längst nicht auf alles eingehen. Nachfolgend finden Sie eine kleine Auswahl mit einer etwas längeren, hoffentlich für Sie interessanten Erläuterung zur Türkei.

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Türkei

Seit nunmehr 20 Jahren befasse ich mich intensiv mit der Lage in der Türkei. Als ständige Türkeiberichterstatterin handele ich, stellvertretend für meine EVP-Fraktion, die Texte aller Parlamentsresolutionen zu diesem Land mit den anderen Fraktionen aus. Unsere diesjährige Resolution ist tatsächlich die harscheste, die es jemals gab.Die Beitrittsverhandlungen mit der Türkei, vor 15 Jahren begonnen, sind schon seit Jahren festgefahren. Die anti-europäischen Entwicklungen in diesem Kandidatenland gipfelten in der neuen türkischen Verfassung, die dem Präsidenten alle Staatsmacht zuspricht. Damit wurden Demokratie und Rechtsstaatlichkeit abgeschafft und eine regelrechte Präsidialdiktatur geschaffen. Bereits im vergangenen Oktober hatte das Europäische Parlament daher die Vorbeitrittsmittel um die 70 Millionen Euro gekürzt, mit denen die Demokratisierung der Türkei unterstützt werden sollte. Mit einem Land, in dem Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte wird mit Füßen getreten werden und das Oppositionelle, Regierungskritiker und Journalisten bis ins Ausland verfolgt, verhaftet und unter an den Haaren herbeigezogenen Anschuldigungen zu jahrelangen Haftstrafen verurteilen lässt, kann die EU nicht mehr über einen Beitritt verhandeln.Deshalb fordert das Europäische Parlament die offizielle Aussetzung der Beitrittsverhandlungen und stattdessen den Aufbau einer anderen Art der Zusammenarbeit. Der Weg geht nun also doch in Richtung einer privilegierten Partnerschaft. Ich persönlich hätte gerne eine deutlichere Formulierung, nämlich „Beendigung der Beitrittsverhandlungen“, gehabt, damit die Zahlung der Vorbeitrittsmittel an den türkischen Staat endlich gestoppt werden kann, doch leider ließ sich das nicht durchsetzen. Viele Kolleginnen und Kollegen hegen nämlich die Befürchtung, dass man mit einem derart strikten Wortlaut die Opposition in der Türkei entmutigen würde. Ich teile diese Befürchtung nicht, denn erstens ist die EU selbst auf lange Sicht sowieso nicht erweiterungsfähig, und zweitens werden wir sowieso immer im Dialog mit diesem Land bleiben müssen, unabhängig von der dort amtierenden Regierung. Ob es uns gefällt oder nicht: Die Türkei ist nun einmal ein wichtiger Nachbarstaat, mit dem die EU eine ganze Reihe von Interessen teilt, wie z.B. die militärische Zusammenarbeit im Rahmen der NATO und den Kampf gegen den islamistischen Terror. Die Frage ist nur: Wie kann man das Land wieder demokratisieren? Hier bietet sich die Zollunion an, die uns seit 1995 wirtschaftlich verbindet. Sie ist eine denkbare Basis für unsere künftigen Beziehungen. Die Zollunion ist nämlich besonders wichtig die türkische Seite, denn die EU ist der mit Abstand wichtigste Handelspartner der Türkei. Wegen der politischen Verhältnisse ist dort seit geraumer Zeit ein starker wirtschaftlicher Abschwung zu verzeichnen. Hier wollen wir den Hebel ansetzen, indem wir nun den Fortbestand der Zollunion und ihre mögliche Ausweitung auf Agrarprodukte und Dienstleistungen an strenge Bedingungen knüpfen: Die Achtung der Menschenrechte, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit sind für uns unabdingbar.

Genauso muss die Türkei endlich zur Klärung der Zypern-Frage beitragen, ihren rechtlichen Verpflichtungen gegenüber den Nachbarstaaten nachkommen und deren territoriale Integrität anerkennen. Bis heute weigert sich die türkische Regierung, die Republik Zypern als eigenständigen Staat und als Mitglied der EU anzuerkennen. Bis heute weigert sich die türkische Regierung, die geschätzt 30.000 bis 40.000 türkischen Soldaten, die im besetzten Nordteil Zyperns stationiert sind, abzuziehen. Bis heute gibt es auf Zypern nur einen Waffenstillstand zwischen dem Norden und der Republik im Süden, mit einer durch UN-Soldaten gesicherten Demarkationslinie. Seit der Entdeckung großer Erdgasvorkommen in den Hoheitsgewässern der Republik Zypern vor einigen Jahren erhebt die Türkei einen Besitzanspruch darauf und behindert mit Kriegsschiffen die Erforschung und Ausbeutung der Erdgaslager. Genauso reklamiert die türkische Regierung einige griechische Ägäis-Inseln für sich und dringt mit ihren Kampfflugzeugen immer wieder in den griechischen Luftraum ein. Diese Provokationen müssen endlich aufhören!

Spirituosenverordnung

Es gibt gute Neuigkeiten für Liebhaber und Hersteller von Eierlikör. Nach der bisher gültigen Spirituosenverordnung durfte Eierlikör ausschließlich Ei, Zucker bzw. Honig und natürlich Alkohol enthalten. In einigen Regionen Deutschlands wird Eierlikör aber nach traditionellen Rezepturen mit Sahne geschmacklich abgerundet, und auf vielen Wohltätigkeitsveranstaltungen wird selbstgemachter Eierlikör mit Sahne verkauft. Das fand bisher in einer rechtlichen Grauzone statt, denn es war gesetzlich nicht ausdrücklich erlaubt. Im Oktober 2018 entschied der Europäische Gerichtshof dann sogar, dass unter der Verkehrsbezeichnung „Eierlikör“ vertriebene Liköre keine Sahne enthalten dürfen. Ich konnte durchsetzen, dass die neue Spirituosenverordnung die Verwendung von Sahne im Eierlikör jetzt ausdrücklich erlaubt. Diese Änderung tritt mit sofortiger Wirkung in Kraft. Außerdem gibt es für Spirituosen nun EU-weit einheitliche Höchstwerte zur Abrundungszuckerung. Bisher hatte jeder Mitgliedsstaat seine eigenen Regelungen. Zwar sind die neuen Werte höher als die bisher in Deutschland gültigen Zucker-Höchstmengen, aber der nationale Gesetzgeber darf strengere Regelungen treffen und ich hoffe sehr, dass er dies auch tun wird. Verwendet man zur Herstellung von Obstbränden nämlich hochwertige Früchte, ist eine Abrundungszuckerung nicht nötig. Der Verzicht auf einen Zuckerzusatz, gerade in Deutschland die Regel, ist also ein Qualitätsmerkmal. Leider konnte ich nicht durchsetzen, dass der Verzicht auf den Zusatz von Zucker auch auf dem Flaschenetikett ausgelobt werden darf. Hersteller dürfen aber die Angabe „Trocken“ oder „Dry“ verwenden. Das ist zwar auf dem deutschen Spirituosen-Markt unüblich, kann sich aber hoffentlich als Qualitätsmerkmal etablieren.

Sicherheit in der digitalen Welt

Spätestens die Cyberattacke WannaCry, die 2017 in der EU über 200 000 IT-Systeme zeitgleich lahmlegte, hat gezeigt, dass Europa noch großen Nachholbedarf im Bereich Cybersicherheit hat. Ob großangelegte Attacke oder Virus auf dem Heimcomputer - Europa muss Sicherheitsrisiken in der digitalen Welt besser begegnen. Deshalb wird die EU-Cybersicherheitsagentur ENISA personell und finanziell aufgestockt und die Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten intensiviert. Zudem wird es künftig für IT-Geräte und sichere Dienstleistungen europaweit einheitliche Zertifizierungen geben. Sie geben Auskunft darüber, wie groß das Risiko für Cyberattacken ist und welche Schäden eine Attacke voraussichtlich verursachen kann. Verbesserte Informationen für die Nutzer werden den individuellen Schutz im zunehmend vernetzten Alltag erhöhen. So sollen Konsumenten in Zukunft besser über Risiken bei der Nutzung vernetzter Produkte aufgeklärt werden, zum Beispiel wie sie durch Updates oder Änderung von Standardeinstellungen die Sicherheit bei ihren Geräten erhöhen können.

Illegale Handelspraktiken

Einzelhandelsketten, wie Lidl, Aldi, Rewe, Edeka etc. haben gegenüber den Landwirten eine große Macht. Seit Jahren wird kritisiert, dass die Handelsriesen Agrarbetriebe durch unfaire Handelspraktiken ausnutzen und insbesondere kleine Landwirte an den Rand des Ruins treiben. Nach Schätzungen verlieren kleine und mittelständische Unternehmen in der Landwirtschaft und Lebensmittelverarbeitung innerhalb der EU jährlich etwa 2,5 bis 8 Milliarden Euro (1% - 2% ihres Umsatzes) durch unlautere Handelspraktiken. Die Bauern sollen deshalb besser geschützt werden. Künftig wird es eine schwarze Liste verbotener Handelspraktiken geben: Verzögerte Zahlungen für gelieferte Produkte, späte Stornierungen von Bestellungen oder rückwirkende Auftragsänderungen, die Weigerung des Käufers, einen schriftlichen Vertrag mit einem Lieferanten abzuschließen und der Missbrauch vertraulicher Informationen. Sofern nicht anders im Liefervertrag vereinbart, sollen auch die entschädigungslose Rückgabe unverkaufter Produkte an einen Lieferanten, die Verpflichtung der Lieferanten, für die Produktwerbung zu zahlen und z.B. die Abwälzung von Rabattkosten auf den Lieferanten verboten werden.

Anti-Plastikstrategie

Mehr als 80 Prozent der Abfälle im Meer sind Plastikmüll. Diese Plastikrückstände sind nicht nur für das qualvolle Verenden von Meereslebewesen verantwortlich, sondern sie gelangen über den Verzehr von Fischen und Schalentieren auch in die menschliche Nahrungskette. Zwar stammt der Großteil des Plastikmülls im Meer aus Asien. Das befreit uns aber nicht von unserer eigenen Verantwortung. Das Europäischen Parlament hat deshalb ein weit reichendes Maßnahmenpaket zur Verringerung von Plastikmüll in der EU verabschiedet. Ab Frühjahr 2021 sollen Einweg-Kunststoffteller, Plastikbesteck, Rührstäbchen, Trinkhalme und zum Beispiel Plastik-Wattestäbchen (Q-Tips) verboten werden. Für alle diese Produkte gibt es umweltfreundliche Alternativen. Die EU-Mitgliedstaaten sind verpflichtet, bis zum Jahr 2026 eine deutliche Reduktion an Getränkebechern und Lebensmittelverpackungen aus Kunststoffen zu erreichen. Getränkeflaschen aus PET müssen ab dem Jahr 2025 einen Anteil von mindestens 25 Prozent recyceltem Kunststoff enthalten, sämtliche Plastik-Getränkeflaschen ab 2030 einen Anteil von 30 Prozent. Da Luftballons nur äußerst marginal zur Verschmutzung europäischer Strände beitragen und längst nicht alle aus Kunststoffen, sondern eher aus Naturkautschuk bestehen, wurde das von Grünen und Sozialdemokraten geforderte generelle Luftballonverbot abgelehnt. Allerdings hat sich eine Herstellerhaftung durchgesetzt. Danach werden Hersteller dazu verpflichtet, für die Aufräumkosten, die durch ihre Produkte entstehen, finanziell zu haften. Wie das funktionieren soll, ist mir allerdings schleierhaft. Ich finde, es ist die Verantwortung eines jeden Einzelnen, den Müll nicht in die Umwelt zu werfen! Insgesamt aber begrüße ich das Maßnahmenpaket. Es ist Zeit für ein Umdenken im Umgang mit unseren Ressourcen, und der Verzicht auf den Kaffee zum Mitnehmen wird langfristig nicht nur die Umwelt, sondern auch die Geldbeutel der EU-Bürger/innen schonen.

Ende der Zeitumstellung

Mit der Einführung der halbjährlichen Zeitumstellung im Jahr 1980 erhoffte man sich Energieeinsparungen und weitere wirtschaftliche Vorteile. Aber seit vielen Jahren wissen wir, dass sich diese Hoffnungen nicht erfüllt haben. Im Gegenteil: Ärzte warnen vor Gesundheitsgefahren, es gibt Nachteile für Unternehmen, mehr Unfälle im Straßenverkehr und sogar Störungen im Biorhythmus bei Tieren. Kein Wunder also, dass sich mit 4,6 Millionen, davon 3 Millionen allein aus Deutschland, so viele Menschen wie niemals zuvor an einer Bürgerbefragung der Europäischen Kommission beteiligten und zu 84 Prozent das Ende der Zeitumstellung befürworteten. Wir haben dieses Ergebnis sehr ernst genommen und nun die Abschaffung der Zeitumstellung ab 2021 beschlossen. Die EU-Mitgliedstaaten müssen bis April 2020 entscheiden, ob sie dauerhaft bei der Sommerzeit oder bei der Winterzeit (= Normalzeit) bleiben wollen. Um aber einen Flickenteppich aus unterschiedlichen Zeitzonen und daraus entstehende Nachteile für den europäischen Binnenmarkt zu vermeiden, verlangen wir Abgeordnete einen Koordinierungsmechanismus. Im März 2021 soll dann zum letzten Mal die Zeitumstellung auf die Sommerzeit erfolgen. Staaten, die an der Winterzeit (Normalzeit) festhalten wollen, stellen die Uhren im Oktober 2021 ein letztes Mal um. Drei Zeitzonen in der EU, wie wir sie heute schon haben, sollten genug sein, um mögliche Nachteile für Staaten in Randlage auszugleichen.

Wenn ich es mir aussuchen könnte, wäre ich für die Wiedereinführung der Normalzeit in Deutschland. Überlegungen zur Einführung der dauerhaften Sommerzeit mit einem späteren Schulbeginn im Winter, um Schulwege im Dunkeln zu vermeiden, halte ich für nicht praktikabel.

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Abschied

Mit diesem Straßburgbrief verabschiede ich mich von Ihnen. Nach 20 Jahren Abgeordnetentätigkeit im Europäischen Parlament trete ich am 26. Mai 2019 nicht erneut zur Europawahl an. Ich möchte nun wieder in mein Leben außerhalb des Parlaments zurückkehren, voller Dankbarkeit für die vielen Jahre, in denen ich meine Heimat, das Ruhrgebiet, Nordrhein-Westfalen und Deutschland auf der europäischen Ebene vertreten durfte. Ich danke Ihnen für die unendlich vielen interessanten Begegnungen, Diskussionen, Anregungen, Erfahrungen und natürlich für Ihre treue Leserschaft. Bitte bleiben Sie unserer EU gewogen und helfen Sie mit, sie zu verteidigen und zu erhalten. Sie ist natürlich nicht perfekt und wird es vielleicht auch niemals sein. Aber diese Europäische Union ist unsere gemeinsame, so wunderbar vielfältige Heimat, unsere Antwort auf die Globalisierung und als Friedensprojekt schlichtweg eine historische Sensation. Es lohnt sich, immer weiter an ihr zu arbeiten! Ich wünsche Ihnen von Herzen alles Gute, Ihre Renate Sommer."

| Quelle: Büro Sommer