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Dr. Renate Sommer.

Brief aus Straßburg

Die Europaabgeordnete für das Ruhrgebiet, Dr. Renate Sommer, schreibt im Juni 2017 in ihrem Brief aus Straßburg: " Liebe Leserin, lieber Leser, während unserer letzten Straßburg-Tagung vor der Sommerpause diskutierten wir über Pläne für eine europäische Verteidigungsunion und forderten mehr Steuertransparenz für Großunternehmen. Darüber hinaus sprachen wir uns für längere Haltbarkeit von Verbraucherprodukten aus und forderten in unserem Bericht zur Lage in der Türkei die Einstellung der Beitrittsverhandlungen.

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Die EU-Staaten verlieren durch Tricks einiger Großkonzerne zur Steuervermeidung jährlich schätzungsweise 50 bis 70 Milliarden Euro an Steuereinnahmen. Das EU-Parlament hat sich deshalb in erster Lesung für einen Gesetzesvorschlag ausgesprochen, der multinationale Konzerne verpflichten will, ihre wirtschaftlichen Aktivitäten offenzulegen. Demnach sollen Unternehmen, die in der EU tätig sind und einen Umsatz von mehr als 750 Millionen Euro haben, die Gewinne, Ertragssteuern und die Anzahl der Arbeitskräfte in jedem Land veröffentlichen. So soll sichergestellt werden, dass Firmen auch dort ihre Steuern zahlen, wo ihre tatsächliche wirtschaftliche Tätigkeit und Wertschöpfung stattfindet. Streit gab es über die Art der Transparenzpflicht. Sozialdemokraten, Grüne und Sozialisten im Parlament forderten, dass die Informationen für alle Bürger zugänglich im Internet veröffentlicht werden. Dadurch könnten aber auch Geschäftsgeheimnisse offenbart werden. Zusammen mit den Liberalen konnten wir deshalb durchsetzen, dass die Offenlegungspflicht nur gegenüber den Behörden gilt. Schließlich wollen wir nicht alle Unternehmen öffentlich an den Pranger stellen. Jetzt geht es in die Verhandlungen mit dem Ministerrat. Dort gibt es großen Widerstand gegen den Vorschlag. Insbesondere Ländern wie Malta, Irland und Luxemburg, die wegen ihrer Steuerpraktiken bereits im Visier der EU-Kommission stehen, ist der Vorschlag ein Dorn im Auge.

Reparieren statt wegwerfen: Mit diesem Ansatz wollen wir die Lebensdauer und Reparaturfähigkeit von Produkten fördern. Deshalb fordern wir die Einführung von Mindeststandards für die Haltbarkeit von Produkten. Außerdem sollen Ersatzteile zu einem angemessenen Preis und leichter erhältlich sein. Wesentliche Komponenten, wie Batterien oder Leuchtmittel, sollen nur dann fest eingebaut werden, wenn dies aus Sicherheitsgründen unerlässlich ist. Hintergrund unseres Initiativberichtes ist der Vorwurf, dass die Industrie insbesondere Elektrogeräte und andere Hightech-Geräte absichtlich so entwickelt, dass sie bereits nach einer geringen Lebensdauer ersetzt werden müssen, was eben nicht der Ressourceneffizienz und dem Verbraucherschutz entspricht. Deshalb sollen in Zukunft abschreckende Maßnahmen den absichtlichen Einbau von Schwachstellen in technische Geräte verhindern. Auch beim Verbraucherschutz sehen wir noch Verbesserungsbedarf. Zwar gibt es in der gesamten EU eine gesetzliche Gewährleistungsfrist von 24 Monaten; wir meinen aber, dass die Hersteller ihre Informationen über die Lebensdauer von Produkten verbessern müssen. Jetzt ist es die Aufgabe der Europäischen Kommission, Anreize für die Produktion langlebiger und reparaturfähiger Produkte zu schaffen und Reparaturen und Verkäufe aus zweiter Hand zu fördern. Das hätte nicht nur Vorteile für Verbraucher und Umwelt. Auch kleine und mittlere Unternehmen, die Reparaturdienste anbieten, würden profitieren und könnten so neue Arbeitsplätze schaffen.

Die Sicherheit unserer Bürger genießt absolute Priorität. Darüber waren sich alle Fraktionen im Straßburger Plenum einig. Die EU wird in Zukunft mehr Verantwortung für ihre eigene Verteidigung übernehmen. Wir werden dazu unsere Fähigkeiten und Kapazitäten stärken, ohne dass es zu einer Militarisierung Europas kommt. Unsere Soldaten werden mit dem besten und innovativsten Material ausgestattet. Dabei soll ein neuer Verteidigungsfonds helfen, neue Anschaffungen zu fördern und Ausgaben effizienter zu gestalten. Eine weitere konkrete Maßnahme des neuen Verteidigungspakets ist die Einrichtung einer militärischen Kommandozentrale in Brüssel. Das Hauptquartier wird zunächst EU-Ausbildungseinsätze in Mali, Somalia und der Zentralafrikanischen Republik organisieren. Mit der Kommandozentrale können wir künftig auf Krisen jeglicher Art schneller reagieren. Willige und einsatzfähige Mitgliedstaaten erhalten so die Möglichkeit, die bisher getrennten „Inseln militärischer Kooperation“ zusammenzuführen. Die geplante Verteidigungsunion soll die NATO natürlich nicht ersetzen. Geplant ist vielmehr, dass sich beide Akteure ergänzen, um für mehr Sicherheit der Bürger zu sorgen.

Die Entwicklungen in der Türkei sind dramatisch. Erst ein gescheiterter Putschversuch, dann das Verfassungsreferendum, das die Präsidialdiktatur à la Erdogan endgültig rechtlich zementiert. Ausnahmezustand seit einem Jahr, rund 150.000 Entlassungen, zigtausende Verhaftungen, Hexenjagd auf politisch Andersdenkende Abschaffung des Rechtsstaats und ein alles überlagerndes Klima der Angst. Für das Europäische Parlament ist längst klar: Es müssen endlich Konsequenzen gezogen werden! Wir fordern deshalb, die Beitrittsverhandlungen „formell auszusetzen“, was im Klartext das Ende der Verhandlungen bedeutet. Doch dazu müsste endlich auch der EU-Ministerrat den Mut aufbringen, denn nur die Mitgliedstaaten können die Verhandlungen beenden.

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Allerdings ist die Türkei für uns nach wie vor ein wichtiger Nachbarstaat, und die Türkei braucht die EU sogar mehr als umgekehrt. Deshalb ist auch zukünftig eine enge und privilegierte Beziehung zwischen der EU und der Türkei im Interesse beider Seiten, z.B. mittels einer Aufwertung der seit 1995 bestehenden Zollunion. Diese gibt es aber auch nicht zum Nulltarif. Wir fordern auch hierfür die Achtung der Menschenrechte, demokratischer Werte und der Rechtsstaatlichkeit. Schließlich hatte die Türkei diese Bedingungen akzeptiert, als sie 1999 Beitrittskandidat wurde. Allerdings hat das Land keines der Vorbeitrittskriterien jemals wirklich erfüllt. Im Gegenteil: In den letzten Tagen mussten wir miterleben, wie z.T. jahrtausendaltes christliches Kulturerbe im Südosten des Landes konfisziert und an die türkische Religionsbehörde Diyanet übertragen wurde. Die türkische Regierung arbeitet ganz offensichtlich daran, die Minderheit der Aramäer nicht nur - wie schon seit Jahren - weiterhin zu drangsalieren, sondern regelrecht auszulöschen. Das ist ein grober Verstoß gegen den unverhandelbaren Grundwert der Religionsfreiheit. Vor diesem Hintergrund ist es ein Hohn, dass die Türkei weiterhin offiziell darauf besteht, Mitglied der EU zu werden.

| Autor: Dr. Renate Sommer