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Sandra Hüller in Bilder deiner großen Liebe.

Bilder deiner großen Liebe

Sandra Hüller kann auch anders

„Verrückt sein heißt ja auch nur, dass man verrückt ist, und nicht bescheuert“: Wie in Wolfgang Herrndorfs Fragment gebliebenem, 2014 posthum erschienenem Roman Bilder deiner großen Liebe, eröffnet die Ich-Erzählerin Isa auch in Robert Koalls 2015 am Staatsschauspiel Dresden uraufgeführter gleichnamiger Bühnenadaption die nachdenklich-melancholische Reise einer jugendlichen Außenseiterin in ihr Inneres. „Die Sterne wandern, und ich wandre auch“: Ein 14-jähriges Mädchen steht im Hof einer Psychiatrischen Anstalt. Als sich das Eisentor für einen LKW öffnet, schlüpft es unbemerkt hinaus. In der Hosentasche zwei Reserve-Pillen, ihr Tagebuch und 'was zum Schreiben. Dem Müllmädchen sind wir schon kurz in Tschick begegnet, Herrndorfs inzwischen in dreißig Ländern publiziertem Buddy-Roman, dessen Adaption des Dresdener Chefdramaturgen Robert Koall auch im Bochumer Prinz-Regent-Theater mit überragendem Erfolg gelaufen ist in der Inszenierung von Frank Weiß.

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Isa flüchtet sich zunächst in einen Wald, versorgt sich per Mundraub in einem Dorfladen, nimmt eine Dusche am Rasensprenger mitten auf einem Fußballplatz zum Gaudi der urplötzlich aufgetauchten Kicker. Erinnert sich an ihre Kindheit, besonders an den Vater – und hält, nur eine der zahllosen Fiktionsbrechungen des Romanfragmentes, Zwiesprache mit ihrem Erfinder Wolfgang Herrndorf. Der schon stark unter den Folgen eines unheilbarem Hirntumors litt, als er seine Tschick-Randfigur Isa zu neuem Leben erweckte - im Krankenbett der Klinik, in die er sich im Frühjahr 2010 selbst eingeliefert hatte. „Ich bin kein Mädchen wie andere Mädchen. (…) Ich wollte ein Junge sein, solange ich denken kann. (…) Als Mädchen ist man wie behindert, man hat auf einmal einen Körper. Und das weiß ja keiner, die Jungs. Die wissen überhaupt nicht, was das bedeutet, einen Körper zu haben. (…) Wenn ich an Glück denke, denke ich immer an Mongos. Mongos und Jungen. Dumm sterben“: Isa hat sich mit der Nagelschere selbst entjungfert, bevor sie das erste Mal mit einem Jungen schlief.

Nun sitzt sie am Kanal und beobachtet einen Lastkahn – und springt im nächsten Moment einfach darauf. Max Hiller, der Kapitän der Daniela, ist nicht gerade erfreut über den blinden Passagier, verarztet aber Isas wunden Füße. Und tut auch ihrer wunden Seele gut, denn er hat etwas zu erzählen - von einem Bankraub in Berlin. Bei der nächsten Schleuse will er die Ausreißerin der Polizei übergeben, doch Erstere ist schneller. Robert Koall hat richtigerweise auf nun im Roman folgende, aber nicht bis zu Ende verfolgte Erzählstränge verzichtet. So landet Isa zunächst bei einem merkwürdigen Schriftsteller, der einmal Theologe und Jurist gewesen ist. Und dem sie besser durch das Fenster entkommt. Die Sache mit dem toten Jäger im Wald wird zurecht kurz abgetan, denn schon wartet ein Fernfahrer mit einem veritablen 18-Tonner und einer Ladung halb verdursteter Schweine auf Isa. Die erst die grunzenden Vierbeiner versorgt, bis sie sich aus dem Staub macht und, beinahe am Ende des Romans, auf die beiden Jungen aus Tschick trifft.

„Sie fahren, ich schlafe, sie schlafen, sie fahren. Wir schlafen. Wir fahren über den Berg. Wir verabreden, uns in fünfzig Jahren wiederzutreffen. Ich bin einverstanden. Ich find's gut, aber ich glaube nicht dran. Entweder man sieht sich vorher oder nie. Also wahrscheinlich nie“: Isa ist, nach einem nicht weiter ausgeführten Intermezzo bei ihrer Halbschwester, in den Bergen angekommen. In der Tasche die P8, die sie dem Jäger abgenommen hat. „Der Abgrund zerrt an mir. Aber ich bin stärker. Ich bin nicht verrückt. … Ich bin dieselbe. Ich bin das Kind.“

Während in Dresden und anschließend in Potsdam der Vorlage Robert Koalls entsprechend jeweils zwei Schauspieler auf der Bühne standen, die Darstellerin als Isa, ihr männlicher Kollege als Schiffer, Schriftsteller und Fernfahrer, hatte sich Frank Weiß in Bochum, Premiere war am 25. Februar 2016, für ein Frauen-Trio entschlossen, das unterschiedliche Facetten Isas verkörperte und alle anderen Figuren gleich mit übernahm. Mit Schlagzeug, Gitarre, Keyboard und Gesang machte die Girl-Band ordentlich Lärm. Für den sorgte bei der Schweizer Erstaufführung am 28. April 2016 am Theater Neumarkt Zürich die deutsche Ausnahme-Schauspielerin Sandra Hüller mit ihren beiden musikalischen Mitstreitern Moritz Bossmann (E-Gitarre) und Sandro Tajouri (Schlagzeug): „Am Anfang war die Kraft“. Die grazile, mit ihrer Rolle der ehrgeizigen Tochter in Toni Erdmann inzwischen weltbekannte, international ausgezeichnete Ernst-Busch-Absolventin, hat jüngst in Thomas Stubers grandiosem Film „In den Gängen“ eine verhuschte Großmarkt-Angestellte mit problematischer Ossi-Vergangenheit verkörpert. Dass die inzwischen 40-jährige Mutter einer siebenjährigen Tochter auch anders kann, beweist sie nun in den Bochumer Kammerspielen beim umjubelten Gastspiel der Schweizer Adaption, einer fulminanten Mischung aus Rezitation, Rock-Konzert und Roadmovie-Environment (Ausstattung: Michael Graessner).

Regisseur Tom Schneider von der koproduzierenden Freiburger Gruppe Off deluxe lässt Sandra Hüller, deren schwarz-glitzerndes Outfit eher elegant als sportlich wirkt und nicht wirklich zum Lektüre-Eindruck der 14-jährigen „Herrscherin über das Universum, die Planeten und alles“ passt, alle Freiheiten, aus sich herauszukommen. Was wie eine herkömmliche Lesung mit Standmikro am Stehpult beginnt, artet unterstützt von einer überfallartigen Lichtregie in eine totale Vereinnahmung des Publikums aus: nach knapp neunzig Minuten hat die 1978 in Suhl geborene und nach Wanderjahren u.a. in München (Kammerspiele), Berlin (Castorfs Volksbühne), Basel und Zürich nun in Leipzig lebende Schauspielerin des Jahres 2010 und 2013 das Parkett voll im Griff.

Die sich hier sehr burschikos gebende Trägerin des Deutschen (2006 für Requiem) und des Europäischen Filmpreises (2016 für Toni Erdmann), die ab 15. Juni 2019 in der „Hamlet“-Inszenierung des Bochumer Intendanten Johan Simons in der Titelrolle zu erleben ist, gewinnt das Publikum mit direkter Ansprache, darstellerischen Miniaturen (wenn Isa sich an ihre Kindheit erinnert, reckt sich Sandra Hüller auf den Zehenspitzen nach dem Mikro), scheinbar improvisierten Extempores und einer wie ganz selbstverständlich daherkommenden szenischen und musikalischen Entäußerung unterm Himmelsgestirn-Mobile. Sie macht die problembeladene Figur, macht Isas Ängste transparent auch für die, welche den Roman nicht kennen. In stiller Nachdenklichkeit rechts an der Rampe sitzend wie als laute Rock-Röhre auf den mit viel Technik und wenig Grün vollgestellten Brettern.

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„Keine Fragmente aufbewahren, niemals Fragmente veröffentlichen. Niemals Germanisten ranlassen. Freunde bitten, Briefe etc. zu vernichten. Journalisten mit der Waffe in der Hand vertreiben“: So hat es Wolfgang Herrndorf, 1965 in Hamburg geborener Maler, seine Landschaften und Selbstporträts waren erstmals im Sommer 2015 im Berliner Literaturhaus ausgestellt, Karikaturist (u.a. für die „Titanic“) und vielfach ausgezeichnete Romancier („In Plüschgewittern“, „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“), am 1. Juli 2013 in seinem Testament festgelegt, bevor er sich am 26. August 2013 am Ufer des Hohenzollernkanals erschoss. Ein Glück, dass sich weder seine Witwe noch seine Freunde daran gehalten haben. Bilder einer großen Liebe steht wieder am Mittwoch, 24. April 2019, auf dem Spielplan der Kammerspiele an der Bochumer Königsallee,

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  • Mittwoch, 24. April 2019, um 20 Uhr
| Autor: Pitt Herrmann